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Passanten laufen in der estnischen Hauptstadt an einer Bahn vorbei. Seit Anfang des Jahres sind dort Fahrten mit Bus oder Straßenbahn gratis.

Foto: APA/dpa/Peer Grimm

Tallinn/Stockholm – Fahrkarten sind in den Bussen und Straßenbahnen von Tallinn seit Anfang des Jahres Geschichte. Zumindest für die Bürger der Ostseemetropole. Denn seit Jahreswechsel ist die 420.000 Einwohner zählende Hauptstadt Estlands die erste Hauptstadt weltweit, die ihre Bewohner völlig kostenlos und unbegrenzt mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren lässt. Mit dieser Maßnahme soll neben der Luftverschmutzung die ständig ansteigende Zahl von Staus bekämpft werden.

15 Prozent weniger Verkehr

Die Stadtverwaltung sieht inzwischen erste Erfolge. "Der Verkehr in der Innenstadt ist um 15 Prozent zurückgegangen", sagte Allan Allaküla, Verkehrsexperte und Chef des Tallinner EU-Büros, zum Standard. 21 Prozent der Bürger sagen in Umfragen, sie benutzten nun den öffentlichen Nahverkehr viel häufiger. Im vergangenen Jahr nutzten täglich rund 100.000 Bürger die Öffis.

Bürgermeister Edgar Savissar hofft, dass sich die Zahl im Lauf der Monate noch deutlich steigern wird. Das neue Konzept wurde zum Jahreswechsel auch durch zahlreiche Busspuren auf bisherigen Fahrspuren in der Innenstadt flankiert. "Tallinn ist innovativ. Wir sind die erste Hauptstadt, in der ein derartiges Konzept in einem solchen Umfang umgesetzt wird", betont Savisaar. Auch erhöhe die Maßnahme die Mobilität ärmerer Familien deutlich.

Umstrittene Initiative

Dabei ist die Initiative des linksliberalen Stadtoberhauptes heftig umstritten. Gegner kritisieren, dass mit Tallinns angeschlagenem Haushalt viel brennendere soziale Probleme gelöst werden müssten.

Der Nahverkehr war in Tallinn schon zuvor kräftig subventioniert worden. Eine Monatskarte kostete 18,50 Euro. Aus den Fahrscheinerlösen wurden bis Ende 2012 immerhin 33 Prozent der Kosten für den Öffi-Betrieb gedeckt. Der Ausfall wird von der Opposition auf 20 Millionen Euro geschätzt. "Die Straßen sind voller Schlaglöcher und es gibt kein Geld für Kindergärten", kritisiert Valdo Randpere von der bürgerlichen Opposition.

Preiserhöhung für Touristen

Savisaar hält dagegen, dass sich nun mehr Menschen in Tallinn wohnhaft melden würden, was die Steuereinnahmen letztlich erhöhe. Vor 2013 waren viele Personen, die die Öffis in Anspruch nehmen und in Tallinn oder seinem Umland wohnen, noch in anderen Kommunen steuerpflichtig. Die melden sich nun in Tallinn an, um in den Genuss des elektronischen Freitickets zu kommen. Denn nur wer in Tallinn gemeldet ist, fährt gratis. Für Touristen und andere Besucher wurden die Preise von 80 Cent auf 1,60 Euro verdoppelt.

Wenn das Tallinner Modell längerfristig funktioniert, könnte es in der Region durchaus Schule machen. Inzwischen erwägen nämlich die beiden anderen baltischen Hauptstädte Riga und Vilnius wie auch das finnische Helsinki die Einführung von Öffis zum Nulltarif. (André Anwar, DER STANDARD, 6./7.4.2013)