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Für ihn geht es auf dieser Welt nicht mit (ge)rechten Dingen zu: Ein Demonstrant signalisiert mit der Aufschrift auf seinem Sweater, dass die Protestbewegung "Occupy Wall Street" immer noch existiert.

Foto: epa/Talaie

Wenn er in Harvard seine Vorlesungen hält, sind oft über tausend Studierende im Saal - und Hunderttausende weltweit sind online dabei oder sehen die Vorträge später auf Youtube. Spricht er in Peking oder Schanghai, dann sind die Säle auch voll. Michael Sandel ist der große Star der zeitgenössischen Philosophie.

Die Zeit nannte ihn unlängst den "wohl populärsten Professor der Welt". Und wenn man sein Buch Gerechtigkeit. Wie wir das Richtige tun liest, dann versteht man, warum das so ist. Es ist eine fulminante Anleitung dazu, die richtigen Fragen zu stellen - und zwar zu Themen, die uns in der täglichen politischen Diskussion anspringen. Wenn etwa durch die Medien geht, dass VW-Chef Martin Winterkorn ein Jahreseinkommen von 14,5 Millionen Euro einstreift, fordern Gewerkschafter und andere Linke für Einkommensmillionäre wie Winterkorn hohe Spitzensteuersätze, und da Winterkorn natürlich nicht nur zu den Topverdienern, sondern wohl auch zu den Topvermögensbesitzern zählt, wäre er auch einer jener, die einiges an Vermögensabgabe bezahlen müssten, würde sie denn eingeführt.

Fantasiegehälter ungerecht?

Wir neigen heute dazu, solche Fantasiegehälter als ungerecht anzusehen. Aber warum überhaupt? Und sind "Gerechtigkeitsdebatten" immer wirkliche "Gerechtigkeitsdebatten", oder kommt da auch anderes ins Spiel? Michael Sandel macht das systematische Nachdenken über solche Frage zu einer intellektuell vergnüglichen Sache.

Auf den ersten 300 Seiten liest sich Sandels Buch wie eine populäre Einführung in Ethik und Moralphilosophie. Er referiert die unterschiedlichsten theoretischen Konzepte. So etwa die des Libertarianismus, der an Einkommen wie jenem von Winterkorn nichts Kritikwürdiges sieht. Winterkorn ist ein freier Mensch. Die Aufsichtsräte, die mit ihm seine Verträge aushandelten, sind auch Menschen. Die Konsumenten, die offenbar Autos von VW so schätzen, sind freie Menschen, und ebenso ist es die Besitzerin des Friseurladens, in dem sich Herr Winterkorn die Haare schneiden lässt. Die Angestellte des Friseurladens ist es ebenso. Freie Menschen schließen untereinander Verträge. Die Konsumenten sind bereit, viele Autos zu hohen Preisen zu kaufen. Die Aufsichtsräte sind gewillt, Herrn Winterkorn 14,5 Millionen zu bezahlen. Herr Winterkorn ist gewillt, für dieses Geld zu arbeiten. Die Friseurladenbesitzerin ist wiederum bereit, ihrer Friseuse 800 Euro im Monat zu bezahlen. Und die Friseuse ist bereit, für dieses Geld zu arbeiten.

Was also soll daran ungerecht sein?, fragt der Libertarianismus. Schließlich haben freie Menschen ohne Druck und vollständig informiert rechtlich korrekte Verträge geschlossen - und die Einkommensverteilung ist eben das Ergebnis davon. Wenn die Abläufe korrekt waren, dann ist auch das Ergebnis gerecht. Das heißt natürlich nicht, dass es in irgendeiner Weise moralisch erstrebenswert ist. Es sagt nichts darüber aus, ob Herr Winterkorn in irgendeinem eminenten Sinne "verdient", was er verdient. Aber das ist für Gerechtigkeitstheorien dieser Art ja auch nicht die Frage.

Friseuse und Millionär

Würde man Herrn Winterkorn auf eine Weise besteuern, die über das Maß hinausgeht, das für die Finanzierung minimaler Staatsaufgaben hinausgeht, wäre das doch ungerecht, sagt der Libertarianismus. Insbesondere dann, wenn man das Geld von Herrn Winterkorn zugunsten der Friseuse umverteilt.

Dagegen würden die Gewerkschafter, die hohe Spitzensteuersätze verlangen, mehrere Einwände formulieren. Etwa dass es einen "gerechten Lohn" gebe, den die Friseuse nicht erhält. Möglicherweise würden sie aber auch einwenden, dass die Einkommen nicht wirklich durch "freie" Verträge zustande kommen. Herr Winterkorn handelt sein Gehalt mit Aufsichtsräten aus, die selbst irgendwo Manager sind und damit mit ihm unter einer Decke stecken. Die Friseuse handelt ihren Vertrag nicht frei aus, sondern ist von der Aussicht auf Arbeitslosigkeit so gepeinigt, dass sie nehmen muss, was sie kriegen kann. Zudem würden sie anmerken, dass Herr Winterkorn an staatlichen Universitäten zu einem solch genialen Manager ausgebildet wurde, und auch seine Ingenieure wurden vom Staat ausgebildet, weiters würde niemand seine Autos kaufen, wenn der Staat nicht Autobahnen und Straßen baute - seine Steuern sind aus dieser Sicht nur "Gebühren" für all das. Aber höchstwahrscheinlich würden die Gewerkschafter auch hinzufügen, dass eine sehr ungleiche Einkommensverteilung nachteilige Wirkungen auf die Volkswirtschaft und damit auf die Wohlfahrt aller hat und damit Umverteilung zum Vorteil aller (oder fast aller) wäre.

Dieses Argument ist aber nicht im strengen Sinne eines, das Gerechtigkeitsfragen diskutiert, sondern eines, das Fragen der Nützlichkeit aufwirft. Nützlichkeitsfragen können gewiss mit Gerechtigkeitsfragen verbunden sein, das ist es, was der Utilitarismus betont: Wenn es nützlich ist, das Glück von Herrn Winterkorn ein wenig zu schmälern, um das Glück von tausend Friseusen zu steigern, dann ist das auch gerecht. Schließlich ist Winterkorn nur einer, die Friseusen sind tausend. Aber dieses Argument steht auf wackeligen Beinen. Denn stellen wir uns vor, das Glück der tausend Friseusen würde gesteigert, indem wir Herrn Winterkorn erwürgen. Würden wir das dann als gerecht ansehen? Würde das Glück der vielen Friseusen das Unglück des einen Herrn Winterkorn rechtfertigen? Wir würden, mit Recht, daran zweifeln.

Wütende Aklage von Hans-Ulrich Wehler

Es ist heute bereits weitgehend Common Sense, dass es offenbar nicht mehr gerecht zugeht, wenn etwa in Deutschland die Top-10-Prozent 66 Prozent aller Geldvermögen auf sich konzentrieren - 1970 hatten die Top 10 erst 44 Prozent. Gerade hat Hans-Ulrich Wehler, der Doyen der deutschen Sozialgeschichtsschreibung, eine wütende Anklage gegen die wachsende Ungerechtigkeit verfasst. Das Davonziehen der Superreichen habe "im Grunde nichts mit den Computerfertigkeiten von Fachleuten, mit der Lohnunterbietung durch Entwicklungsländer oder mit dem Einfluss von Marktentscheidungen zu tun. Sie sind ganz und gar der Ausfluss von Kompetenzausübung in ihrem Herrschaftssystem. Sie müssen daher als Phänomene des Machtbesitzes endlich anerkannt und diskutiert werden."

Michael Sandel nähert sich all diesen Fragen leiser, indem er die Gerechtigkeitstheorien des Utilitarismus, des Libertarianismus, indem er Kant und Rawls und Aristoteles diskutiert, sich stets selbst ins Wort fällt. Sein eigenes Urteil deutet Sandel über viele hundert Seiten nur da und dort an, um dann auf den letzten 70 Seiten erst richtig in Fahrt zu kommen. Grundsätzlich, formuliert er noch mit John Rawls, wäre Gleichverteilung gerecht, da alle Menschen für sie plädieren würden, sofern sie nicht wüssten, auf welcher Stufe der sozialen Hierarchie sie selbst angesiedelt wären. Rechtfertigbar seien allenfalls jene gemessenen Ungleichheiten, die notwendig sind, um ökonomische Anreize zu entwickeln, in deren Folge sich die Wohlfahrt aller, also insbesondere der Unterprivilegierten hebe. Aber Sandel geht noch weiter. Das Manko aller liberalen Gerechtigkeitstheorien sei heute (und damit meint er die linksliberalen wie die rechtsliberalen Theorien), dass sie einen moralischen Individualismus voraussetzen und Fragen nach Tugend, dem guten Leben, gesellschaftlichen Zwecken und kollektiver Vergemeinschaftung umschiffen. Das ist an sich etwas Sympathisches: Liberale Gerechtigkeitstheorien haben das gute Leben aller im Auge, ohne dem Einzelnen Vorschriften zu machen, wie er sein Leben gestalten soll. Jeder soll das für ihn Gute selbst wählen.

Gesellschaftliche Zwecke diskutieren

Vor allem die Linke habe sich in die fragwürdige Lage gebracht, für Verteilungsgerechtigkeit eintreten zu wollen, ohne über Moral und geteilte Werte zu sprechen. Aber viele Fragen der Gerechtigkeit lassen sich einfach nicht entscheiden, ohne dass man über gesellschaftliche Zwecke diskutiert. "Es ist nicht immer möglich, unsere Rechte und Pflichten zu definieren, ohne entscheidende moralische Fragen aufzugreifen - und selbst wenn es möglich ist, mag es nicht immer wünschenswert sein." Zudem: Niemand ist ein "moralisches Individuum" in der Weise, wie es dieser Liberalismus unterstellt. Wir sind mit anderen verbunden, wir sind mit einer Geschichte verbunden, die nicht immer allein die unsere ist, unsere Wünsche sind in diesem Sinne nie allein unsere eigenen. Sie werden geformt von einem Gemeinwesen, das aber selbst durch grobe Ungleichheiten zersetzt wird.

So wird, was als beinahe stilles, vergnügliches Lehrbuch über Gerechtigkeitstheorien zu beginnen schien, am Ende zu einem kraftvollen Plädoyer für progressive Reformen, Gleichheit und eine linke Orientierung am Gemeinwohl. (Robert Misik, Album, DER STANDARD, 6.4.2013)