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Immer mehr, immer größer: Wachsen als Krisenlösung?

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Ulrich Brand: Der Wachstumsbegriff ist gesellschaftlich festgelegt und wird von mächtigen Interessen auf Unternehmensseite, bei den Beschäftigen und Gewerkschaften sowie von der Politik getragen.

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Der Deutsche Bundestag hat Ende 2010 die Einsetzung einer Enquete-Kommission mit dem Titel Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft beschlossen. Die überfraktionelle Arbeitsgruppe aus Abgeordneten und externen Sachverständigen - wie dem Wiener Politologen Ulrich Brand - will die programmatische Diskussion über das Wohlstandsverständnis und seine -perspektiven voranbringen. Ulrich Brand im derStandard.at-Interview über seine Arbeit und wieso ökologische Ziele nur mit mehr Demokratie zu erreichen sind.

derStandard.at: Die Enquete-Kommission wird im April nach über zwei Jahren Arbeit ihren Endbericht vorlegen. Wie ist die Diskussion zur Bedeutung von Wachstum verlaufen?

Ulrich Brand: Eigentlich haben wir uns um die Diskussion des Wachstumsbegriffs gedrückt, obwohl die Kommission das Wort Wachstum im Titel führt. Das ermöglicht zwar Konsense, aber damit ist natürlich relativ wenig erreicht. In der Zeit wurde die Frage gestellt, ob die Enquete-Kommission gescheitert ist. Ja, sie ist gescheitert. Sie ist sinnvollerweise gescheitert, weil sie sich zu wenig mit den Treibern des Wachstums auseinandergesetzt hat und wenig zur Klärung eines zeitgemäßen Wohlstandsbegriffs beigetragen hat. Wir hätten eine intensivere Debatte über Gesellschaftspolitik gebraucht und weniger eine Debatte über die richtigen Indikatoren für Wachstum und Wohlstand. Ich hoffe aber, dass jene, die nicht als Krisenlösung "Wachstum, Wachstum, Wachstum" hoffentlich mehr werden.

derStandard.at: Welche Positionen wurden in der Enquete vertreten?

Brand: Die FDP vertritt die Meinung, dass es gar kein Ressourcenproblem gibt. Sie geht davon aus, dass Wachstum durch mehr Wissen, bessere Technologie und Innovation generiert würde und damit auch die aktuellen Probleme in den Griff zu bekommen sind. In der CDU gibt es neben solchen Positionen auch christlich-sozialethische, wachstumskritische Positionen. Relativ stark ist die linke, keynesianische Position, die davon ausgeht, dass wir Wachstum brauchen, das aber auch aus qualitativem Wachstum bestehen kann. Die Grünen geben sich unentschieden: Sie sagen, bestimmte Bereiche müssen wachsen, andere nicht. Feministische Positionen, die ja schon lange einen viel breiteren Wohlstandbegriff vertreten, spielten so gut wie keine Rolle.

derStandard.at: Müssen wir also auf Wachstum verzichten oder brauchen wir ein anderes Verständnis von Wachstum?

Brand: Im Grunde genommen ist das Spannende an der Enquete, dass sie zeigt, dass der herrschende Blick auf die Wachstumsproblematik und auf Wachstum immer noch dieser ist: Wachstum bedeutet, dass jedes Jahr mehr Güter und Dienstleistungen für den Markt produziert werden. Dieser Wachstumsbegriff ist gesellschaftlich festgelegt und er wird natürlich von mächtigen Interessen auf Unternehmensseite, bei den Beschäftigen und Gewerkschaften sowie von der Politik getragen. Und er trifft ja auch was: Mehr Gewinne, Einkommen und Steuereinnahmen schaffen Handlungsspielraum und entschärfen Konflikte. Deshalb brauchen wir keinen neuen Wachstumsbegriff, sondern ein neues Verständnis von Wohlstand.

derStandard.at: Und wie könnte dieses neue Verständnis aussehen?

Brand: Wenn wir einen neuen Wohlstandsbegriff wollen, dann müssen wir auch jene Bereiche in den Blick nehmen, die nicht über den Markt organisiert sind, also Hausarbeit, Freiwilligenarbeit oder Gemeingüter. Die Hauptschwäche der Enquete-Kommission ist, dass die allermeisten der Sachverständigen Ökonomen sind, bei denen diese Bereiche nicht oder kaum zählen. Interessanterweise haben das einige christlich-soziale Mitglieder der Kommission noch am ehesten gesehen. Die meisten stellen wohl mal fest, dass es so was gibt, sagen dann aber: Unsere déformation professionnelle ist, dass wir uns nur Marktprozesse ansehen. Das zeigte sich, als einige Ökonomen Inputs zum Begriff Wohlstand lieferten. Sie redeten natürlich nur über den marktförmigen Wohlstand; sie verwechselten die Mannigfaltigkeit gesellschaftlichen Wohlstands mit dem, was sie durch ihre ökonomische Brille sehen. Wir wissen doch, dass Unfälle und Maßnahmen gegen die Umweltverschmutzung das Wachstum anheizen; und wenn die Leute Burn-Outs haben und in die Reha gehen, dann erhöht das auch das BIP. All das wird zwar konstatiert, aber nie systematisch in den Blick genommen. Für mich ist das die interessanteste Erfahrung  der Enquete-Kommission.

derStandard.at: Und wie können wir zum neuen Verständnis von Wohlstand kommen?

Brand: Ich denke, wenn wir Wohlstand wollen, der ökologisch nachhaltig und solidarisch sein soll, dann kommen wir um die Frage der Demokratie, um die Frage, wie Gesellschaft gestaltet wird, nicht herum. Wir dürfen hier auch nicht den Ökologen auf den Leim gehen, die nach dem Motto argumentieren: "Hauptsache wir bekämpfen den Klimawandel". Da steht dann nämlich in Klammern: "Ist der Weg autoritär oder demokratisch? Egal! Hauptsache wir bekämpfen den Klimawandel und die Erosion der biologischen Vielfalt". Es geht aber nicht nur um die Übernutzung der Erde und die Grenzen des Wachstums, sondern auch um gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse und Fragen gesellschaftlicher Gestaltung. Meine starke Annahme ist, dass wir Änderungen erreichen können, wenn Menschen über eine Demokratisierung ihrer Lebensbereiche, Politik, Öffentlichkeit und Arbeit, ein neues Verhältnis mit der Gesellschaft eingehen, also wenn sie sich wieder für diese Gesellschaft verantwortlich fühlen.

derStandard.at: Handelt es sich bei der Ökologie-Debatte nicht um eine Mittelschichtsdebatte? Biologische Nahrungsmittel, energieeffizienter Wohnraum usw. – all das setzt ein gewisses Einkommen voraus.

Brand: Ja, und das ist gleichzeitig das Problem und die Chance. Augenblicklich stellt die Kritik am Wachstum ein grün-liberales Geschäft der Mittelklassen und der aufgeklärten Oberschichten dar. Ich fände es wichtig, die Gewerkschaften einzubeziehen, die ja auch ein Interesse an einer guten und solidarischen Gesellschaft haben. Umweltfragen müssen zu sozial-ökologischen Fragestellungen umgebaut werden. Da bewegt sich ja auch einiges. In der Öko-Debatte geht es bisher zudem nur um den Menschen als Konsumenten. Du musst als Konsument nachhaltig sein, aber dass du im Arbeitsprozess entfremdet bist, dass du politisch kaum etwas zu entscheiden hast, das interessiert nicht.

derStandard.at: Gibt es nicht einen Widerspruch zwischen ökologischen und sozialen Interessen? Schon jetzt können sich viele Menschen nicht leisten ihre Wohnungen im Winter zu heizen. Mit aus ökologischer Perspektive wünschenswerten höheren Energiepreisen würde sich das Problem zuspitzen.

Brand: Heute heißt es im sozialdemokratischen Lager, dass die Energiepreise niedrig sein müssen, weil es sonst die Leute mit niedrigem Einkommen trifft. Wie können wir dahin kommen, dass diese Menschen fordern: Haussanierung, bessere Städte, weniger Autos, weniger Lärm. Nun sind es ja die armen Leute, die an den befahrenden Straßen wohnen und billige und schlechte Lebensmittel zu sich nehmen müssen. Wenn man diese Verknüpfung herstellt, geht es nicht mehr um die Verteidigung der Armen gegen die Ansprüche der Luxus-Ökos. Es geht dann nicht mehr um niedrige Energiepreise und darum Energie-Armut durch Zuschüsse zu bearbeitet, sondern darum, die Energie-Armut über einen Umbau des Energie-Systems zu lösen.

derStandard.at: Was braucht es um ökologischer leben zu können?

Brand: Eine gute Gesellschaft ist eine gerechte Gesellschaft. Dafür muss auch die Verteilung von Erwerbseinkommen und Vermögen thematisiert werden. Es geht aber auch darum, wie wir einen Staat gut ausstatten können, um die Gesellschaft gut zu gestalten. Wie wird das Energiesystem umgebaut? Woher kommen die Investitionen für ein post-fossiles Energiesystem? Dazu müssen Finanzierungsmaßnahmen ergriffen werden, die Verteilungswirkung von oben nach unten entfalten. Ein Umbau des Verkehrssystems, ein auto-befreites Wien braucht einen kostenlosen Nahverkehr. Da stellt sich natürlich die Frage: "Wer finanziert das?" Und so landen wir bei Verteilungsfragen.

derStandard.at: Werden kostenfreie Leistungen eine große Rolle spielen?

Brand: In der Post-Wachstumsdebatte geht es auch darum, wie wir unabhängiger von Erwerbseinkommen werden. Wenn der Staat grundlegende Bedürfnisse deckt und etwa kostenlose Mobilität und ein gutes Gesundheitssystem zur Verfügung stellt, dann werden die Menschen unabhängiger vom Erwerbseinkommen: Sie können dann auch mit 25 Stunden Arbeit zurechtkommen. Diese Art von Wohlstand besteht nicht mehr nur im "Ich lebe, um zu arbeiten", sondern im "Ich arbeite, um zu leben und ich arbeite mehr als nur Lohnarbeit". Diese Debatte kann beginnen, wenn Menschen aus diesem Druck herauskommen. Klar, heute ist er politisch gewollt und wir müssen uns ja nichts vormachen, die Leute wollen auch konsumieren. Wenn sie von 25 Stunden Arbeit und weniger Erwerbseinkommen gut zu Recht kommen könnten, weil sie nicht für den öffentlichen Verkehr oder fürs Auto zahlen müssten, wäre das nicht eine attraktive Lebensperspektive, die uns in Fragen der Nachhaltigkeit ein großes Stück voranbringen würde?

derStandard.at: Welche Bedeutung wird der Konsum in Zukunft haben?

Brand: Er ist natürlich wichtig: Nachhaltiger Konsum, kollektiver Konsum, Nicht-Konsum sind Punkt, die wir in der Enquete-Kommission diskutiert haben. Bisher blendet die Konsumdebatte aus, welche Produkte wie produziert werden. Was im Handy drinnen ist, ist doch keine Frage von Friede, Freude, Wahlfreiheit. Wir brauchen eine Debatte darüber wie Mobiltelefone zu 99 Prozent recycling-fähig werden. Dafür muss Innovationstempo herausgenommen werden. So müssen wir über Konsum reden. Stattdessen wird das Bild erzeugt, dass der Konsument, die Konsumentin Wahlfreiheit hat und die Aufgabe der Politik darin besteht, sie besser zu informieren.

derStandard.at: Und welche Rollen spielen dabei die Unternehmen?

Brand: Auch sie sind zentral. Ich sage ja nicht, alle sollen raus aus der Lohnarbeit, ich sage auch nicht, dass die Hackler in der Autoindustrie ihren Job verlieren sollen. Aber wir sollten über den Umbau von problematischen Branchen reden, und zwar mit den Beschäftigten, nicht auf ihrem Rücken. Wie bekommen wir die österreichische oder deutsche Automobilindustrie und ihre Zulieferer, den Maschinenbau, mit ihrem enormen hochqualifizierten und stark identifizierten Arbeitskörper, umgebaut? Das ist die entscheidende Frage. Wir reden dann nicht mehr über Wachstum, sondern über einen Wahnsinn: Über 1,5 Millionen Menschen plus Familien leben von diesem Exportmotor Automobilindustrie. Wie kriegen wir das umgebaut? Der Umbau kann nur demokratisch erfolgen, auf dem Rücken der Leute gelingt das nicht. Bei aller Offenheit, ich weiß auch nicht wie das ausgeht, aber ich möchte halt nicht nur sagen: "Wir retten den Planeten", sondern auch: "Lasst uns eine gute Gesellschaft schaffen." (Alban Knecht, Anita Roitner, derStandard.at, 13.4.2013)