Alle Lösungen zum Israel-Konflikt seien hinlänglich bekannt. Es fehle der israelischen Regierung schlicht an Mut, diese auch anzuwenden, meint Publizist Ari Rath.

Foto: STANDARD/Newald

Als 13-Jähriger flüchtete Ari Rath vor den Nazis nach Palästina. Wie er den damaligen Antisemitismus erlebte und warum Österreich noch immer viel aufzuarbeiten hat, sagte er Philipp Koch.

STANDARD: In Ihrem Buch "Ari heißt Löwe" erzählen Sie von Ihrem bewegten Leben. Welche Erinnerungen aus Ihrer Kindheit in Wien sind Ihnen noch am stärksten im Gedächtnis?

Rath: Eigentlich alles. Ein Beispiel: Als Kind hatte ich beim Stadtschulrat angesucht, schon mit fünf Jahren eingeschult zu werden, damit ich nach meinem sechsten Geburtstag im Jänner nicht noch neun Monate warten muss. Dort wurde mir folgende Aufgabe gestellt: Es gibt zwei Bauernhöfe, die nur durch eine Mauer getrennt sind. Ein Hahn legt auf diese Mauer ein Ei. Wem gehört nun dieses Ei? Ich bilde mir ein, geantwortet zu haben: "Ein Hahn legt kein Ei." Damit hatte ich den Test bestanden und durfte früher eingeschult werden.

STANDARD: Inwiefern hat sich das Schulleben nach Einführung der "Judenklassen" geändert?

Rath: Die "Judenklassen" sind eines der vielen verdrängten Themen aus jener Zeit. Der Erlass von Unterrichtsminister Kurt Schuschnigg vom 4. Juli 1934 besagte, dass die christlichen und jüdischen Schüler jeweils eine Klasse bildeten, sofern genug jüdische Schüler vorhanden waren (es gab in Wien neun Schulen mit "Judenklassen", Anm.). Ab und zu gab es kleine Sticheleien zwischen den Klassen, aber nicht mehr.

STANDARD: Wie erlebten Sie den damaligen Antisemitismus?

Rath: Zur Zeit des Anschlusses waren rund zehn Prozent der Bevölkerung Wiens jüdisch, obwohl Hitler in Deutschland bereits fünf Jahre an der Macht war. Durch den Anschluss wurden die Juden schlagartig vogelfrei. Als Kind habe ich nicht verstanden, warum andere Gleichaltrige mir zugerufen haben: "Ziag o, du Jud! Schleich di nach Palästina, wo du hingehörst!" Das war für mich eine Beleidigung, denn ich war ja ein Wiener Bub. Solche Anfeindungen waren aber die Ausnahme, weil immer noch so viele Juden hier lebten. Die fünf Monate nach dem Anschluss, mit all den Enteignungen, waren dennoch viel schlimmer als die fünf Jahre in Deutschland, als Hitler schon an der Macht war. Das Schlimme zu verdrängen ist ein jüdisches Syndrom. Ein Thema, worüber man sich heute noch Gedanken machen sollte: Warum waren die Österreicher so starke Judenhasser?

STANDARD: Wie lautet Ihre Erklärung?

Rath: Dazu gibt es ein erschreckendes Beispiel: Nach der Wende hat man sich entschlossen, ein ehemaliges Stasi-Gebäude in Brandenburg zum Finanzamt zu renovieren. Es hat sich dabei herausgestellt, dass dieses Gebäude einst das Verwaltungszentrum sämtlicher Konzentrations- und Zerstörungslager war. Dazu gehörte ein Stab von rund 60.000 SS-Leuten. Mehr als ein Drittel dieser 60.000 Verwaltungsbeamten waren Österreicher. Das erklärt vielleicht auch, warum es heute noch Burschenschaften gibt, die dem Tag der Befreiung nachtrauern.

STANDARD: Mit 13 Jahren sind Sie mit Ihrem Bruder nach Palästina geflüchtet. Wie haben Sie das geschafft?

Rath: Dank einer Auswanderungsstelle für Juden konnten zwei Drittel aller in Wien lebenden Juden, fast 130.000 Leute, auswandern - sogar noch nach Kriegsbeginn. Mein Bruder und ich haben uns dafür gemeldet und konnten am 2. November 1938 nach Palästina auswandern.

STANDARD: Sie hatten dort angeblich das einzige Steyr-Waffenrad. Wie kam es dazu?

Rath: Das Rad wurde mir zu meiner Bar Mitzwa (Anm.: Feier zur religiösen Mündigkeit) geschenkt. Ein Volksschulfreund von mir, den ich schon am 13. März 1938 in Hitler-Uniform gesehen hatte, beschlagnahmte mein Fahrrad mit dem Versprechen, dass er es mir zurückgeben würde, sobald ich die Möglichkeit hätte zu fliehen. Und so kam es dann auch. Mein Fahrrad war das einzige in Israel, das auch in der Hitlerjugend gedient hatte.

STANDARD: Nach 15 Jahren Arbeit wurden Sie Chefredakteur der "Jerusalem Post". Was war Ihre Motivation, Journalist zu werden?

Rath: Das war überhaupt nicht geplant. Ich war nur politisch schon immer neugierig und habe mit sieben Jahren bereits Zeitung gelesen. Ich erinnere mich noch gut an die Überschrift "Herr Hitler Reichskanzler" von Ende Jänner 1933. Alle politischen Ereignisse versuchte ich damals schon in geschichtlichen Kontext zu setzen.

STANDARD: Hat Österreich in der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit reüssiert?

Rath: Erst 1986, 41 Jahre nach Kriegsende, hat Österreich mit der umstrittenen Wahl von Kurt Waldheim begonnen, ernsthaft über die Nazi-Vergangenheit nachzudenken. Das hat natürlich noch Auswirkungen auf das heutige Leben. Man muss auch noch viel aufarbeiten, deshalb ist die Erziehung gegen das Vergessen ganz wichtig. Im großen Unterschied zur Bundesrepublik Deutschland, die schon 1952 ein sogenanntes Wiedergutmachungsabkommen mit Israel unterschrieben hat, fehlt die ernsthafte Aufarbeitung in Österreich. Deswegen glaube ich auch, dass eine Partei wie die FPÖ in Deutschland undenkbar wäre.

STANDARD: Es gibt Stimmen, die behaupten, Antisemitismus in Österreich sei immer noch nicht versiegt.

Rath: Es gibt heute einen Antisemitismus ohne Juden, denn in Österreich leben ja nur mehr 12.000 jüdische Menschen. Es herrscht eher ein Fremdenhass, der natürlich genauso schlimm ist.

STANDARD: Wie könnte der momentane Konflikt in Israel gelöst werden?

Rath: Alle Lösungen sind da. Man muss nur den Willen haben, die Lösungen auch anzuwenden, aber diesen Mut hat die israelische Regierung momentan nicht. (Philipp Koch, DER STANDARD, 3.4.2013)