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Seyran Ates sagt, sie fühle sich angesichts der Forderung von Traditionalisten nach einem absoluten Alkoholverbot und einer Kopfbedeckung für Mädchen im  Volksschulalter "ins siebente Jahrhundert zurückkatapultiert".

Foto: APA/Karlheinz Schindler

STANDARD: Bei einem Symposium in Wien haben Sie gefordert, man müsse endlich darüber diskutieren, dass es religions- und traditionsbedingte Gewalt gibt. Wieso?

Ates: Es gibt große Berührungsängste, das anzusprechen. Es bringt uns aber nicht weiter, wenn wir aus Angst, Ausländer- und Islamfeindlichkeit zu schüren, Tatsachen nicht benennen.

STANDARD: Von welchen Tatsachen reden Sie?

Ates: Ich meine nicht nur Ehrenmorde. Es ist auch eine Form von Gewalt, wenn sich orthodoxe Juden in Jerusalem weigern, mit Frauen in denselben Bus zu steigen. Auch wirtschaftliche Benachteiligung von Frauen ist eine Form von Gewalt, und die ist zurückzuführen auf patriarchale Strukturen. Ich will den Finger dahin legen, wo es wehtut, egal in welcher Tradition oder Religion.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass religionsbedingte Gewalt in Europa zunimmt?

Ates: Wenn einem Mädchen in Pakistan in den Kopf geschossen wird, weil es in die Schule gehen will, ist das religions- und traditionsbedingte Gewalt. Das ist zwar im Ausland, aber wenn wir genau hingucken, haben wir die gleiche Gesinnung auch in Österreich und in Deutschland: Menschen, die sich dem Islam zugehörig erklären und sagen, der wahre Islam wird nur dann gelebt, wenn Männer und Frauen unterschiedlich behandelt werden. Und es gibt Männer, die sich, auf den Islam berufend, freisprechen, ihre Frauen zu prügeln.

STANDARD: Welcher Teil des Korans wird dafür herangezogen?

Ates: Die Sure 4, Vers 34. "Und jene Frauen, deren Widerspenstigkeit ihr befürchtet: ermahnt‚ sie, meidet sie im Ehebett und schlagt sie!", so lautet die Übersetzung. Wir schaffen es inzwischen, Männer und Jungs dazu zu gewinnen, von Gewalt Abstand zu nehmen. Auf der anderen Seite gibt es immer mehr kopftuchtragende Mädchen und Schulbefreiungen.

STANDARD: Wird Ihrer Ansicht nach in Österreich offen über religionsbedingte Gewalt gesprochen?

Ates: Die Bereitschaft, über das Thema zu reden, nimmt zu. Aber Sie haben einen unglaublichen Gegenwind zu bewältigen, noch viel stärker als in Deutschland. Es gibt hier kaum Menschen, die ihre Stimme erheben und mutig sind. Die Angst in Österreich ist sehr groß, in die Rassistenecke gestellt zu werden. Dabei kann ich Ihnen voller Inbrunst sagen, ich bin eine moderne, liberale Muslimin. Ich stamme aus einer Kultur, die sich weiterentwickelt hat. Wenn ich die Besinnung zu einem angeblich wahrhaften Islam sehe, der Kopfbedeckung für kleine Mädchen fordert, fühle ich mich ins siebente Jahrhundert geschleudert.

STANDARD: Inwiefern unterscheidet sich der Diskurs in Österreich?

Ates: Es ist unglaublich, wie sehr man sich in Österreich von der FPÖ abgrenzen muss. Thilo Sarrazin hatte mit seinem Buch ja nur deshalb so viel Erfolg, weil er die Bedürfnisse der Menschen aus der Mitte der Gesellschaft angesprochen hat.

STANDARD: Was raten Sie der SPÖ und der ÖVP?

Ates: Es wäre dringend notwendig, den Rechten das Thema wegzunehmen! Es geht darum, wie in Österreich die Verfassung gewahrt wird und wie diejenigen, die in die Gesellschaft aufgenommen werden, gefördert und gefordert werden.

STANDARD: Sie werfen der Politik vor, mit religionsbedingter Gewalt Wahlkampf zu betreiben, aber kaum Unterstützung anzubieten. Welche Angebote sind wichtig?

Ates: Was machen denn die Islamisten? Sie bieten Nachhilfe an, gleichzeitig vermitteln sie Werte und Zugehörigkeit. Genau an der Stelle müssen Schule und Politik in Österreich ansetzen.

STANDARD: Sie haben die türkische Staatsbürgerschaft vor zwei Jahren abgelegt. Hat sich etwas wesentlich für Sie verändert?

Ates: Vom Gefühl her ist eine Sicherheit eingekehrt, dass ich der türkischen Regierung nicht ausgeliefert bin. Ich weiß, die Deutschen müssen mir beistehen, weil ich Bürgerin Deutschlands bin. Sie haben in Österreich eine wahre Demokratie, abgesehen von Korruptionsgeschichten, aber das sind Peanuts im Vergleich zu den Zuständen in anderen Ländern. Diese Demokratie gilt es zu bewahren.

STANDARD: Stagniert der Erfolg von Integration in Europa?

Ates: Ich bin ein optimistischer Mensch, sonst hätte ich längst das Handtuch geworfen. Das habe ich zwischendurch nur, weil ich bedroht wurde.

STANDARD: Was halten Sie von Political Correctness?

Ates: Political Correctness hat sich von einer guten Idee zu einer absurden politischen Haltung entwickelt. Heute bedeutet das, dass ich keine Kritik mehr einer anderen Kultur, Ethnie und Religion gegenüber üben darf, auch wenn sie die Grenzen der Menschenrechte überschreitet.

STANDARD: Migranten werden meist als Opfer oder als Täter dargestellt. Wie erleben Sie diesen Diskurs?

Ates: Es gibt eine Doppelzüngigkeit: Rassismus ist da, aber den kann man nur bekämpfen, wenn wir ihn dort benennen, wo er stattfindet. Es ist nicht leicht für unsereins, einen vernünftigen Arbeitsplatz oder eine Wohnung zu finden. Aber ich finde es nicht gut, mit diesem Ticket zu fahren. Das sehen wir spätestens dann, wenn Migranten ihre Forderungen stellen. Es gibt 3000 Moscheen in Deutschland, aber es sollen immer noch mehr gebaut werden. In der Türkei darf keine Kirchenglocke geläutet werden. Man richtet sich gern in dieser Opferrolle ein und missbraucht sie, um ein Mehr an Freiheiten für Tradition und Religion zu erkämpfen.

STANDARD: Also fordern Sie auch mehr Engagement von Migranten?

Ates: Es kann nie nur der Staat sein. Doch wenn sich Österreich nicht als Einwanderungsland erklärt, ist das ein großes Problem. Ihr Integrationsstaatssekretär Herr Kurz ist auf einem guten Weg. Ich habe ihn zuerst kritisch betrachtet. Aber schon das erste Gespräch hat mich überzeugt, dass er mit mir in vielen Punkten übereinstimmt und sich für die Wahrung der offenen, zivilen und demokratischen Gesellschaft Österreichs einsetzt und keine Ausländer-raus-Politik betreibt. (Julia Herrnböck, DER STANDARD, 2.4.2013)