Bild nicht mehr verfügbar.

Der Entzauberung der Welt folgte eine Entgöttlichung des Himmels. Aus der Vernunft wurde Vernünftigkeit, aus der Rationalität das Rationelle, aus der Totalität das Totalitäre. Die Erlösung erflehen sie nicht vom himmlischen Franz, sondern ausgerechnet vom italienischen Mario Draghi, der mit dem Himmel allerdings wohl kaum etwas am Hut hat.

Foto: EPA/LECH MUSZYNSKI

Gott ist, da hat der alte Friedrich Nietzsche wohl recht, tot. Zwar kann man sich bei den Himmlischen nie ganz sicher sein, da wird ja - von Dionysos bis Christus - auferstanden, was das Zeug hält. Aber soweit das einer sagen kann, der ausdrücklich kein Himmlischer ist, darf man wohl doch reinen Herzens, sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen, konstatieren: Gott ist tot.

Zu einem Osterwunder gehören immer zwei: einer, der es wirkt, und einer, der es glaubt. Ohne die unbedarften Marien am leeren Grab hätte die ganze Osterstory mit Sicherheit nicht funktioniert. Vor lauter ungläubigen Thomassen hätte Jesus ja bloß ausgeschaut wie ein x-beliebiger Wiedergänger, ein Castingkandidat für die Statististerie des Regisseurs George Romero und seinen cineastischen Kosmos der Untoten. Heutzutage heißt aber praktisch ein jeder Thomas. So ein Thomas (und so eine Thomassin) will nichts anderes als dem Auferstandenen immer wieder aufs Neue prüfend die Finger in die Todeswunden legen. Als ob es einen Unterschied machen würde, ob etwas so Unglaubliches wie die Ostergeschichte "wahr" oder "wirklich wahr" ist.

Zuhause im Drüben

Gott, davon wird man getrost ausgehen dürfen, ist es ziemlich wurscht, ob er nun lebt oder tot ist. Sein Zuhause ist ja eh das Drüben, und das Lebendigsein ist eine Kategorie des Herüben, der Gottestod wirkt sich also hier aus und nicht dort. Da aber Gott - hier bei uns - ganz offensichtlich tot ist, ist es allmählich an der Zeit, sich zu fragen: Was jetzt? Diese Frage harrt - nein, nicht bloß der Beantwortung, sondern überhaupt erst der Behandlung. Die Überlegung, was den Platz Gottes einnehmen wird, hat die Aufklärung dummerweise links liegengelassen. Der selbstermächtigte Mensch mit seinem "katagorischen Imperativ" ist es jedenfalls nicht, soweit hat die Geschichte wohl Beweiskraft.

Dass der Mensch nach seinem "Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit" dem Menschen kein Wolf wäre, wie Immanuel Kant blauäugig annahm, erwies sich im Handumdrehen als Unsinn. Anderthalb Jahrhunderte nach dem großen Königsberger konstatierten dann Max Horkheimer und Theodor Adorno ernüchtert eine sehr beängstigende, beunruhigende Dialektik der Aufklärung, die ungefähr dem Nestroy'schen Fortschritt entspricht, der es "an sich hat, dass er viel größer ausschaut, als er wirklich ist".

Zu Kants Zeit (1724-1804) hat Gott aber noch ein bisserl gelebt. Immerhin ist er von ihm ausdrücklich in Schutz genommen worden vor " Materialism, Fatalism, Atheism, dem freigeisterischen Unglauben, der Schwärmerei und Aberglauben, die allgemein schädlich werden können, zuletzt auch dem Idealism und Scepticism". Hundert Jahre später, bei Nietzsche, klingt das schon anders.

Credo quia absurdum

Mag sein, Gott zuckte da noch ein wenig, aber wahrscheinlich waren das nur postmortale Nervenreaktionen, das Herumrennen eines geköpften Hendls. "Auch der Priester weiß, so gut wie jedermann weiß, dass es keinen ,Gott' mehr gibt, keinen ,Sünder', keinen ,Erlöser', - dass , freier Wille', ,sittliche Weltordnung' Lügen sind: - der Ernst, die tiefe Selbstüberwindung des Geistes erlaubt niemanden mehr, hierüber nicht zu wissen ..."

Nietzsche, der in seinem Antichrist hörbar einen Ton pflegte, gegen den die Tiraden des Abraham a Santa Clara ein laues Eiapopeia gewesen sind, erlaubt uns mit einigem Recht nicht mehr, den Gottestod zu ignorieren. Da aber an die Stelle des nicht mehr erlaubten Nichtwissens nicht Wissen getreten ist (noch je können wird), ergab sich spätestens im Anschluss an Nietzsche, also im 20. Jahrhundert, erst recht wieder ein Credo quia absurdum allererster Ordnung. Der ursprüngliche Hintergedanke der Aufklärung, dass Gott uns möglichst in Ruhe lassen solle, sich gefälligst nicht einmischen möge in unsere diesseitigen Angelegenheiten, flutschte so unversehens gleich ins Ganze.

Der Entzauberung der Welt folgte eine Entgöttlichung des Himmels. Aus der Vernunft wurde bald die Vernünftigkeit, aus der Rationalität das Rationelle, aus der Totalität das Totalitäre. Von 1939 bis 1944 redeten sich Horkheimer und Adorno, die vertriebenen deutschen Philosophen, die Dialektik der Aufklärung - eines der nachdenklichsten Bücher aufklärender Nachdenker - buchstäblich von der Seele.

Nicht, dass die europäische Aufklärung die historisch erste Entzauberung der Welt gewesen wäre. Aber sie ist eben die unsere. Sie fällt mit der bürgerlichen Umkrempelung Europas zusammen. Und nicht nur das. Die Entfesselung der Wirtschafts- und die der Geisteskraft sind zwei Seiten einer Medaille. Die Enthemmung ist der weltliche Aspekt der Entgöttlichung. Lebt man mit einem Jenseits, dann ist der Gedanke, dass man im Diesseits bloß in Untermiete wohnt, nicht verblüffend. Gibt es den Himmel aber nicht, dann gehört einem im Grunde alles, worüber er sich wölbt.

An dieser Stelle - hinter uns die Sintflut! - halten wir im Moment. Und alles deutet darauf hin, dass wir noch geraume Zeit auf dieser Stelle treten werden, was uns unter anderem lächerlicherweise dazu zwingt, Figuren wie José Manuel Barroso, Christine Lagarde oder gar diesen Charismatiker Herman Van Rompuy zuzumuten, uns Mut zu machen. Dafür aber hauen wir dem neuen Papst im Handumdrehen seine weltlichen Verstrickungen und Verfehlungen um die Ohren. Es ist schon eine komische Welt, die so ganz und gar entgöttlichte.

So schlicht, so klar

Von Angela Merkel - und nicht vom neuen Brückenbauer Franziskus - will man hören, dass alles gut werden werde: "Fürchtet euch nicht!", soll die kleine große Deutsche rufen, die doch nichts anderes rufen kann als: " Passt auf!" Von ihr und den anderen diesbezüglich Angehimmelten wollen alle sich retten lassen, wenn nicht gar erlösen. Die Erlösung erflehen sie nicht vom argentinischen Franz, sondern ausgerechnet vom italienischen Mario Draghi, der mit dem Himmel aber wohl kaum was am Hut hat, dafür aber mit Goldman Sachs, wo der nunmehrige EZB-Chef einst ja im Vorstand saß und dort hellauf gelacht hätte, würde ihm jemand gesagt haben: "Lies einmal Matthäus 6,24, alter Freund." Matthäus 6,24: Das ist so ein kurzer Satz, bei dem man sich die kindliche Gläubigkeit, die katholische Gottesnähe zurückwünschen möchte. Matthäus 6,24: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon." So schlicht, so klar, so aktuell.

Unbestritten ist, dass Mt. 6,24 sich ganz besonders auch an die Gottesmänner selber richtet, deren häufig skandalöser Erdenwandel ja immer wieder und zu Recht für Empörung gesorgt hat und auch weiterhin sorgt. Freilich darf einen das nicht wundern. Auch der neue Franz aus Argentinien kann nicht päpstlicher sein als der Papst. Im Unterschied zu den Sündern in der gottlos gewordenen Welt weiß er aber zumindest um die Konsequenzen.

Karl-Heinz Grasser (um vom ganz Hohen abrupt aufs ganz Niedere zu kommen) hat mit hoher Wahrscheinlichkeit weder Mt. 19,24 noch Lk. 18,25 noch Mk. 10,25 gelesen. Und wenn, dann nicht begriffen. Noch der allersündigste Gottesmann aber hat das. Mehr noch, er muss zu seinem eigenen Leidwesen die Sache mit dem Kamel und dem Nadelöhr auch tatsächlich glauben.

Dass gerade die Kamele diesen zentralen Glaubensbestand auf das Entschiedenste bestreiten, liegt auf der Hand. Überraschend aber ist, dass in der nun gottlosen Welt es ausgerechnet die Kamele sind, denen dann auch noch am innigsten geglaubt wird. Dieser kamelische Glaube ist ebenso allumfassend wie der ans Gottesreich, jedoch ausschließlich auf Diesseitige gerichtet, weshalb der modernen Glaubenslehre immer etwas ermüdend Masturbatorisches anhaftet, ein ständiges Dahinköcheln im eigenen Saft. Das Murmeltier grüßt täglich, nur diesmal gleichsam aus dem Maul des Kamels. In seiner aktuellen europäischen Form klingt der Gruß so: "Alternativlos."

In einer von kirchlichen Popanzen tatsächlich noch bestimmten und geprägten Welt mag das Absterben Gottes eine Befreiung gewesen sein. Heute aber, wo die Kirchen wenig mehr sind als traditionspflegende Trachtenvereine, vermisst man die ständige Widerborstigkeit des Gotteswortes. Ja, die Dinge haben sich verkehrt. Heute sind es die Kirchen, die, wenn schon nicht Freiheit, so doch Freiräume schaffen, in denen auch und gerade die abseitigsten Themen geduldig besprochen werden können. Und dann auch wieder nicht, was vielleicht noch wichtiger, weil noch unheutiger ist: dass man dem enervierenden Geplapper eine Pause abtrotzen und wenigstens für einen Augenblick den Mund halten kann.

Inmitten der alternativlosen Zweckmäßigkeiten, der wohlgeordneten Kalkulationen und der rationellen Produktivitätssteigerungen ist das Gotteszimmerl jener Ort, an dem zuweilen die Gedanken ins Fliegen kommen können. Eine Zeitlang hat das - das Fliegen der Gedanken und des Gemüts - die Kunst ermöglicht. Aber die Welt hat die Kunst sich längst einverleibt und als Kulturindustrie nach dem allumfassenden Kalkül zugerichtet.

Mit Gott geht diese Einverleibung deutlich schwerer, der war und ist sperrig und unhandlich, passt nicht und nicht ins Heutige. Wahrscheinlich hat er das auch nie getan. Da irren wohl die, die solches imaginieren für die einstige Herrlichkeit katholischer Regentschaft. Gott ist per definitionem stets das andere, nie das Hier und Heute. Genau das befreit ja auch von der Erdenschwere, vom Kalkül, vom Interesse.

Wahrscheinlich lässt sich das gottgefällige Reden am besten ins Wort setzen in einer leicht illuminierten, sozusagen nach und nach versumpernden Runde, die dem Herrgott den Tag stiehlt. Der Herrgott lässt sich das gern gefallen, weil es für ihn kaum etwas Schöneres geben kann, als dass ihn jeman einen guten Mann sein lässt. Zwei oder drei - so Matthäus 18,20 - sind schon genug, "da bin ich mitten unter ihnen". In Sitzungen, Besprechungen und Konferenzen (und auch im Konklave) sucht man Gott vergeblich. Hier manifestiert sich die bloße Nützlichkeit in all ihrer Unerbittlichkeit, mit der dann nicht transzendiert, sondern transpiriert zu werden hat.

Erstaunlich, dass die Entgöttlichung keineswegs zur Vermenschlichung der Welt geführt hat, sondern umgekehrt zur Bigotterie, die sich sowohl in all dem esoterischen Unfug - Kants freigeisterischer Unglaube, Schwärmerei und Aberglaube - ebenso manifestiert wie in der zunehmend bigott herbeigebeteten politischen Korrektheit des Tuns und Handelns. Beides ist im Grunde nichts anderes als ein Mangel, der mit Unerbittlichkeit kaschiert wird. Es ist dies jener Balken im eigenen Auge, der auf der emsigen Suche nach dem Splitter im Auge des anderen geflissentlich übersehen wird.

Es mag ja täuschen, aber es erweckt zumindest den dringenden Verdacht, dass die bloß vernunftgeleitete Welt zu solchen Dingen besonders neigt: dass es mit der Nachsicht keine Nachsicht mehr gibt, das eigene Maß zunehmend zum Maß für alles und jedes wird, was in weiterer Folge zu einem unentwegten Richten über alles und jedes führt. Zu allem kann man eine Meinung, zu nichts braucht man einen Gedanken zu haben.

Gott mag ein gedankliches Konstrukt sein. Ob Gott bloß Wahrheit ist oder doch die wirkliche Wahrheit, ist allerdings völlig wurscht. Denn auch als Konstrukt ermöglicht er den Menschen, sich mit den Augen des ganz anderen zu betrachten. Das rückt vieles ins rechte Lot.

Innerhalb der Welt kann so manche Marginalie sich zu monströser Popanzgröße aufplustern. Dagegen hilft - nicht immer, aber doch manches Mal - der Blick mit Gottes splitterfreien Augen. Ja, eh: Religion ist schon Opium fürs Volk. Wir Heutigen aber sind stattdessen im Methadonprogramm. Auch schon ein Fortschritt.

Dass Papa Franz unlängst die alte Wiener Volksweisheit, wonach das letzte Hemd keine Taschen habe, urbi et orbi in die Stammbücher hineingepredigt hat, kann man einmal als eine erste Wiederbelebungsmaßnahme verstehen. Das Witzige - mag sein, Franziskus hat das gemeint damit - ist ja, dass gerade der stets aufs Evidente sich berufende Gotteszweifel solche Evidenzen wie die am letzten Hemd dann auch nicht mehr glauben mag.

Dafür glaubt man dann gerne daran, dass Geld arbeitet. Da wäre es doch auch unter den strengsten Auspizien der Gottlosigkeit vernünftiger, gleich der Osterbotschaft Glauben zu schenken. Die lässt sich wenigstens nicht so mirnixdirnix widerlegen. Und wohlklingender ist sie auch allemal. Vom schlichten Halleluja bis zu des alten Bob Dylan "Just remember that death is not the end". (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD, 30./31.3.2013)