Elisabeth von Samsonow und die von ihr 2010 geschaffene Skulptur "The New Electra: The Self-reflexive Girl".

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STANDARD: Sie waren von 1985 bis 1988 Direktorin des Zirkus Hieronimus in Tittmoning in Bayern. Sophronius Eusebius Hieronymus (347-420) war Priester, Bibelübersetzer, Kirchenlehrer. Wie kam der Heilige in Ihren Zirkus?

Von Samsonow: Der Name "Zirkus Hieronimus" mit diesen hüpfenden Silben gefiel vor allem den Zirkuskindern. Er war die Idee einer kleinen Reiterin. Mich erinnerte der Name an Giordano Bruno, mit dem ich mich damals beschäftigt habe. Er besaß die Schriften des Hieronymus mit dem verbotenen Kommentar des Erasmus von Rotterdam. 1576 musste er sie angeblich in den Abort werfen, weil ein Kontrollor der Inquisition kam. Auch ein Zirkus. Ich habe eine Schwäche für die Ketzerei. Es gibt das schöne lateinische Wort: Hic circus, hic mundus. Dies ist der Zirkus, dies ist die Welt.

STANDARD: Sie haben auch Theologie studiert - welchen Anteil hat das an Ihrem Denken als Philosophin?

Von Samsonow: Ich habe mich für Religionen interessiert und mir ein Studium aus Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie gewählt, von dem ich dachte, dass es ein ideales Programm wäre. Als würden die Schnittmengen zwischen diesen Fächern eine Zone der allgemeinen Wissenspoesie oder poetische Wissenslehre bilden.

STANDARD: Wie passt diese Poesie oder der Glaube zur Wissenschaft, die ja um die Vernunft kreist?

Von Samsonow: Was wir Wissen nennen, ändert sich ständig, es ist endlich und vorläufig. Das scheint mir ein erster Lehrsatz, und er ist selbst von den Wissenschaften bis jetzt nicht widerlegt worden. Wäre Wissen ewig und unhintergehbar, wäre das Gespräch beendet, würde es Wissenschaften im Plural nicht geben, auch keinen Wissenschaftsbetrieb. Ich gehe davon aus, dass die größte Menge an "Wissen" eigentlich veränderliche Glaubenstypen sind. Es handelt sich um Glauben, um Überzeugung, um etwas, das jetzt gelten kann, aber unter Umständen noch verändert werden wird. Wissen hat immer einen poetischen Anteil. Wie stellen wir uns die Welt vor? Heute anders als vor hundert Jahren. Wir sind allerdings eingeschworen auf unsere Vorstellungen und leichtfertig bereit, diejenigen, die sich das nicht so vorstellen wie wir, zu denunzieren, als wären sie in Vorläufigkeiten steckengeblieben. Wir sollten uns darauf gefasst machen, dass unser Wissen in hundert Jahren belächelt werden könnte.

STANDARD: Denkt die Wissenschaft zu wenig an diese Vorläufigkeit, zumal das, was mit Glaube oder Religion zu tun hat, schnell als das Unvernünftige, das Vormoderne abgetan wird, das noch ein paar Entwicklungen nachholen muss, bis es die Moderne eingeholt hat?

Von Samsonow: Die Utopien der Aufklärung wirken gewaltig nach. Wenn sich die Philosophie zur Religion zu Wort meldet, etwa durch Jacques Derrida und Gianni Vattimo, dann plädiert sie bestenfalls für nachsichtige Toleranz in Bezug auf die Religion. Das kann aber auch die Politik machen. Das soll und muss sie auch machen. Und das müssen die Religionen untereinander machen. Aber die Philosophie hat endlich eine analytische Arbeit zu leisten, die aufzeigt, dass und wie die Religion einen Punkt besetzt in Bezug auf das, was Menschen in der Lage sind zu erkennen und was nicht. Es geht nicht einfach darum, die Religion zu tolerieren, abzuschaffen oder zu überwinden, als wäre das der definitive Auftrag der Moderne.

STANDARD: Religion ist aus Ihrer Sicht also nichts Vormodernes?

Von Samsonow: Ich habe einen sehr weiten Begriff von Religion und würde gerne auch gar nicht über die Hochreligionen sprechen wollen, weil ich keine Lust mehr habe, mich ewig über diese zu streiten. Außerdem habe ich da als Frau eh wenig zu sagen. (lacht) Ich sehe, dass Religionen, auch die zahllosen Klein- und Kleinstkulte, für viele Menschen sehr wichtig sind, und nehme das ernst - philosophisch und künstlerisch.

STANDARD: Wo beobachten Sie denn die von Ihnen angesprochene Denunziation von Gläubigen?

Von Samsonow: Intellektuelle neigen dazu. Meine Erfahrung ist die, dass man, schon wenn man über Religion nachdenkt, leicht von Leuten angegriffen wird, die unterstellen, man sei eine Betschwester. Ich sehe darin eine ungerechtfertigte Blasiertheit. Es steht an, über Religionen nachzudenken. Sie sind wichtig, sie sind hochwirksame Elemente der Gesellschaft, der Politik, aber vor allem der Erkenntnissysteme.

STANDARD: Es ist Karwoche. Welche Rolle darf Religion in einem freiheitlich-säkularen Staat spielen?

Von Samsonow: Man müsste in einem säkularen Staat in Bezug auf die Religion so viel Einsicht gewonnen haben, dass die modernen Zeiten eine Umverteilung der Überzeugungen bewerkstelligt haben. Ich kann Überzeugung im Sinne des Glaubens von Religion abziehen und auf säkulare Bereiche verteilen. Der säkulare Staat hat verstanden, dass er die Religion als ein Moment der modernen Gesellschaft respektiert - das reicht aus. Die Debatte dreht sich heute vor allem darum, ob und wie die Religion mit Moral zusammenhängt. Ich bin eher auf der Seite Friedrich Schleiermachers, der in seinen Reden über die Religion "an die Gebildeten unter ihren Verächtern" die These vertritt, dass die Weltbildfunktion der Religionen unabhängig ist von Moral und Metaphysik. Diese - vorrangige Felder der Philosophie - funktionieren durchaus unter säkularen Vorzeichen, unbedingt. Aber offenbar können sie die Weltbildfunktion in Bezug auf Gefühl und Anschauung, das poetische Moment, nicht vollständig ersetzen.

STANDARD: Das klingt sehr nach Religion primär als Dichtkunst?

Von Samsonow: Ja, es wäre schade, wenn uns die großartigen Texte und Bilder der Religionen fehlen würden. Mich interessiert, inwieweit uns die Religionen in ihrer poetischen Weltbildfunktion mit einem Archiv bereichern, ohne welches das moderne Bild vom Menschen verflachen würde. Man wird einwenden, dass es zahllose wundervolle, maximalistische Menschenbilder abseits der Religionen gibt. Aber ein plastisches Bild des Menschen als Expression des Kosmos bringt doch nur die transzendentale Poesie der Religionen zustande. Wenn ich höre, welch üble Begriffe vom Menschen geläufig geworden sind, "Endverbraucher" zum Beispiel, lechze ich geradezu nach einer Poetik, die erlaubt, Menschen als groß und sinnig in der Welt stehende zu denken, als Gegenentwurf, als Ermunterung sozusagen.

STANDARD: War nicht auch der Spekulationsfuror, der fast die gesamte Weltwirtschaft an den Abgrund gebracht hat, ein Ausdruck einer " Geldgläubigkeit", dass es immer mehr und mehr werden kann?

Von Samsonow: Ja, die Geldwirtschaft ist ein wichtiges Anwendungsfeld für die Logik des Glaubens. Es ist schon ein Kalauer, wenn man feststellt, dass das Credo des Glaubensbekenntnisses und der Kredit miteinander verwandt sind. Das Glaubens- oder Vertrauensmoment hat den Gründern unserer Geldwirtschaft erlaubt, ein Papier zu nehmen, etwas darauf zu drucken, es jemandem zu reichen und zu sagen: Hoc est argentum meum. Das ist mein Geld. Glaube mir, das ist so und so viel wert. Ohne diesen Glauben an das substanzielle Wesen des Geldwerts würde das Geldsystem nicht funktionieren. Ich würde allen, die Probleme mit der Religion haben, empfehlen, ihre Kritik gegen das Geldsystem vorzubringen und sich die Frage zu stellen: Wie steht es in dieser Angelegenheit mit meinem Glauben? Ist mein Glaube gut angelegt? Was mache ich mit meinen hundert Prozent Glauben, die ich zu verschenken habe? Gebe ich null Prozent der Religion, 80 Prozent "den Märkten", und den Rest verteile ich zu kleinen Teilen auf unterschiedliche Überzeugungen?

STANDARD: Apropos Überzeugungen: Die Meinungsmärkte wuchern ja auch - Twitter, Facebook, Foren im Internet. Alles Glaubensmärkte?

Von Samsonow: Das sind wunderbare Beispiele für die Redistribution von Glauben. Die Meinung ist die Königsfunktion des Alltags, es wird ständig geglaubt. Jeder Mensch verschenkt ständig sein Kapital von 100 Prozent Glauben. Neigt er dazu, 100 Prozent der Religion zu geben, ist er ein Fundamentalist. Oder er schließt sich jemandem an: Ich finde deine Meinung gut, mir gefällt deine Erfindung. Ich bin dein Follower. Früher wanderten einzelne Apostel und Prediger durch die Gegend auf der Suche nach den ihnen Geneigten, heute verwandelt sich die ganze Menschheit in Wanderprediger. Man twittert und bloggt und sammelt Follower: also Jünger. Jeder will seine Gemeinde haben.

STANDARD: Sie sprechen von "monumentaler Architektur der öffentlichen Meinung". Was heißt das?

Von Samsonow: Man muss erkennen, dass das, was die Religionen seit mindestens 2000 Jahren tun, als etwa das Christentum noch eine kleine Sekte war, die einen Kaiser auf ihre Seite zu bringen wusste, also in Bezug auf das Glaubensinvestment als Meinungsproduzent zu wirken, immer Umverteilung von Glauben ist. Die ganze Menschheit findet sich verwickelt in ein hochorganisiertes Superbandenwesen. Man kann dazu Parteiensystem sagen oder Debattenkultur oder Religionskampf usw. In letzter Instanz geht es darum, täglich die frei verfügbaren Subventionen, sprich: Glaubensmengen, einzuwerben. Die Gefahr ist vielleicht, dass es zu viele kurzlebige und oberflächliche Thesen gibt, die "Likes" produzieren, dass die Angebote ins Unermessliche anwachsen.

STANDARD: Was lässt sich über das Verhältnis von Kunst und Religion sagen?

Von Samsonow: Sie überschneiden sich in einem wesentlichen Punkt. Die Kunst bearbeitet die Steuerelemente der Weltbildfunktion genauso, wie die Religionen es tun. Wieder ist das Stichwort die transzendentale Poesie. Im Königreich der Imagination konkurrieren Religion und Kunst sozusagen um die Schürfrechte. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 29.3.2013)