Kindheit im Belagerungszustand: Zeina Abirached zeigt eine private Parallelwelt, in der der Krieg nur indirekt präsent ist.

Foto: Avant-Verlag

 Es tut sich ein Mikrokosmos im Bombenhagel auf - und ein neuer Versuch der Vergangenheitsbewältigung in Comicform.

Wien - Wie leergefegt sind die Straßen. Wälle aus Containern und Fässern haben sie zu Sackgassen amputiert, Einschusslöcher punktieren die Barrikaden. Der Hintergrund, vor dem sich grellweiße Umrisse abheben, ist tiefschwarz. So wie auch das ebenmäßige Dunkel der Wohnung, in der eine ältere Frau kerzengerade auf einem Stuhl sitzt und beschwichtigt: "Auf jeden Fall ...", setzt sie an. "Zumindest ... glaube ich, dass wir hier trotz allem, vielleicht, mehr oder weniger in Sicherheit sind."

Sie bringt damit das Wechselbad zwischen Zuversicht und Zweifel auf den Punkt, das in Beirut im Jahr 1984, inmitten des Bürgerkriegs, vorherrschte. Viele verließen das Land, andere hielt es - trotz allem, trotz der Heckenschützen vor der Tür - in ihren Wohnungen. 2006 stieß die libanesisch-französische Zeichnerin Zeina Abirached in einem TV-Bericht aus dem Archiv zufällig auf die Frau, die diesen Satz sagte. Es war ihre Großmutter. Das war der Ausgangspunkt ihrer Graphic Novel Das Spiel der Schwalben.

Abirached schlüpft darin wieder in ihre Kindheit, in das Vorzimmer mit dem alten Wandteppich, in dem die gutbürgerliche Familie zusammengerückt war, um sich vor den Bombardements zu schützen. Der Drang zur "Erinnerungsarbeit" habe sie dazu gebracht, Comics zu zeichnen, sagt Zeina Abirached bei einem Gespräch am Rande eines Comic-Festivals, das kürzlich im Institut français in Wien stattfand. "Niemand im Libanon spricht über den Bürgerkrieg. In den Schulen ist das Thema tabu", sagt sie. "Das Buch half mir, mich zu vergewissern: Ich habe das nicht geträumt. Es ist wirklich passiert."

Sechs Jahre nach dem französischen Original ist Das Spiel der Schwalben nun auch auf Deutsch erschienen. In unerbittlichem Schwarz-Weiß, das keine Zwischentöne kennt, zeichnet Abirached einen Nachmittag im ganz normalen Kriegsalltag nach. In der Wohnung, die direkt an der Demarkationslinie zwischen dem Ost- und Westteil von Beirut liegt, überbrücken die Kinder die Zeit, bis ihre Eltern, die im nahen Haus der Großmutter festsitzen, den Parcours durch die Barrikaden antreten können.

Dabei füllt sich das kleine Vorzimmer mit Nachbarn, Verwandten, Rauchschwaden und herbeigetricksten Kostbarkeiten wie frischem Salat und Whiskey. Ganz nebenbei verwebt sich die illustre Gesellschaft zu einem Mikrokosmos, in dem der Krieg nur indirekt präsent ist: Durch den Mangel - an Strom, Wasser, Telefonverbindungen -, durch die Geschichten, die förmlich im Raum herumschwirren, zwischen dem Dröhnen der Bomben.

Im Stil Marjane Satrapis

Abirached, 1981 geboren - also bereits während des 15 Jahre andauernden Bürgerkriegs -, skizziert die Kapsel ihrer Kindheit als eine behütete, enge Welt, in der ein trockener Witz gepflegt wird und sich die Tragik in kleinen Details offenbart. Die Familiensituation und vor allem die ornamentalen, aber stets klaren, stilisierten Zeichnungen haben eine frappante Ähnlichkeit mit dem Stil Marjane Satrapis, deren Graphic Novel Persepolis über ihre Kindheit im Iran zu einem Bestseller wurde. "Ich kannte ihre Arbeit nicht, als ich nach Frankreich kam", beteuert Abirached.

Ausschlaggebend für die Parallelen dürfte eine gemeinsame Inspirationsquelle sein: Der französische Comiczeichner David B., der mit Die heilige Krankheit ästhetische Maßstäbe setzte. "Als ich ihn mit 19 entdeckte, war ich schockiert von dieser Brutalität, der Übergangslosigkeit der Zeichnungen. Es war das erste Mal, dass ich ein autobiografisches Comic las."

Mit Das Spiel der Schwalben reiht sich Abirached in eine lange Tradition der Kriegs- und Vergangenheitsbewältigung in Bildsequenzen ein - von Keiji Nakazawas Barfuß durch Hiroshima über Art Spiegelmans Maus bis zu den Comicreportagen von Joe Sacco (Palästina) und Emmanuel Guibert (Der Fotograf), wobei sich Abirached leider nicht mit der Einbettung ihrer entdramatisierten Geschichte in einen historischen und politischen Zusammenhang aufhält. "Ich wollte eine universelle Geschichte erzählen, in der sich viele Leute wiederfinden können", begründet sie.

Zurzeit arbeitet die junge Illustratorin an ihrer nächsten Graphic Novel, basierend auf dem Leben ihres Urgroßvaters. Der kam in den 1960ern nach Wien, um ein Klavier bauen zu lassen, das per Pedal zwischen westlichem und orientalischem Modus wechseln konnte. Es wurde nichts daraus - der Krieg kam dazwischen. (Karin Krichmayr, DER STANDARD, 29.3.2013)