Fotorecherche von Tal Adler: Das Bezirksmuseum Wieden ehrt den Antisemiten Karl Lueger.

Foto: Tal Adler

Sie häufen Material auf, verlieren sich im Dickicht - und legen den Finger in schmerzhafte Wunden.

Wien - Forschung war immer Teil der Kunst. Sie blieb aber in der Regel im geschlossenen System der Kunstgeschichte, etwa wenn sie sich mit ikonografischen Fragen oder Ismen aller Art und gegenseitigen Beeinflussungen auseinandersetzt. Doch in den letzten Jahren haben sich Künstler einen neuen Bereich erschlossen: Bei ihrer Auseinandersetzung mit der vielgestaltigen Umwelt betrachten sie bereits die Recherche als künstlerischen Akt.

Die "künstlerische Forschung" unterscheidet sich scheinbar nicht von der wissenschaftlichen: "Wir haben den gleichen Anspruch", sagt Karin Schneider, die an der Akademie der bildenden Künste das Projekt MemScreen mitinitiierte. Das Problem von "Artistic research" oder " Art-based research" ist jedoch die mitunter fehlende Zielgerichtetheit: Man will Prozesse in Gang setzen, vermag aber keine Schlüsse zu ziehen, sondern verliert sich im angehäuften Material. Dies führt die Ausstellung Laboratorium Österreich, ein Ergebnis von MemScreen, drastisch vor Augen.

Friedemann Derschmidt zum Beispiel beschäftigt sich seit zwei Jahren mit seinem Großvater, dem Wiener Eugeniker Heinrich Reichel. Er motivierte seine weitverzweigte Verwandtschaft, "sich mit der sensiblen Frage der Schuld" und der Involvierung in die "Nazibewegung" auseinanderzusetzen, richtete u. a. einen nur für Familienmitglieder zugänglichen Weblog ein - und begann eine intensive Sammeltätigkeit. Der Reichel Komplex ist mittlerweile derart komplex, dass Derschmidt nichts anderes tun kann, als das Material (Ahnenpass, Hitler-Devotionalien, Briefe, NS-Broschüren) in Vitrinen aufzuhäufen: Es wuchs ihm wohl über den Kopf.

Reizvoll zumindest und ziemlich brutal ist im gleichen xhibit-Saal die Gegenüberstellung mit dem Projekt von Shimon Lev. Dessen Vater, der 1921 in Wien geborene Physikprofessor Wiliam Löw, überlebte als Einziger aus der Familie den Holocaust. 2012 begab sich Shimon Lev, eingeladen von MemScreen, auf Spurensuche; das Ergebnis sind in ihrer Sachlichkeit beeindruckende Fotos z. B. des Wohnhauses und des Geburtsbuches. Weit schwächer fallen die Fotos der israelischen Künstlerin Michal Bar-Or aus, die sich, ebenfalls im Rahmen des Gastkünstlerprogramms, mit Wiener Sehenswürdigkeiten auseinandersetzte.

Sie betten sich aber perfekt in die herausragenden Fotostrecken von Tal Adler ein, der gleich mehrere MemScreen-Projekte "illustriert". Im Rahmen von Freiwillige Teilnahme laden er und Karin Schneider Vereine, die zumindest seit 1938 existieren, ein, sich der eigenen Vergangenheit zu stellen; als "Belohnung" gibt es danach ein Gruppenfoto. So sieht man u. a. den Pfarrgemeinderat der neugotischen Weinhauser Kirche in Währing, deren erster Pfarrer, Joseph Deckert, ein hetzerischer Antisemit war.

Bereits in den 1980er-Jahren beschloss man, den Vorplatz nicht länger " Pfarrer-Deckert-Platz" zu nennen. Im Fall von Karl Lueger, Zeitgenosse Deckerts und ebenfalls Antisemit, dauert das Umdenken noch an. Im Bezirksmuseum von Wieden wird Lueger gar wie ein Heiliger verehrt. Dies zeigt Adler in der ungemein dichten Serie Zersprengte Fragmente.

Zusammen mit Karin Schneider besuchte er Bezirksmuseen. In jenem der Josefstadt entdeckten sie Reste eines verlorengegangenen Stefan-Zweig-Archivs; im Landstraßer fiel ihnen auf, dass man den Juden gedenkt, die flüchten mussten oder deportiert wurden. In Ottakring hingegen hält man den NS-Dichter Josef Weinheber in Ehren. Eine nach wie vor nicht mit einem Kommentar versehene Weinheber-Büste befindet sich auf dem Schiller-Platz - unmittelbar vor der Akademie. Es gibt noch einiges zu tun. (Thomas Trenkler, DER STANDARD, 29.3.2013)