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Bevölkerungswissenschafter Wolfgang Lutz schätzt, dass die Zahl der auf der Erde lebenden Menschen bis 2050 auf rund 9,2 Milliarden anwachsen und dann leicht zurückgehen wird.

Foto: APA/Neubauer

STANDARD: Laut der Uno haben wir am 31. Oktober 2011 die 7-Milliarden-Menschen-Grenze überschritten. Sie waren skeptisch und behaupteten damals, dass es noch nicht so weit sei. Wie viele Menschen leben heute auf dem Planeten Erde?

Lutz: Mittlerweile halten wir ziemlich sicher bei knapp über sieben Milliarden. Unsere Prognosen gingen davon aus, dass wir diese Marke erst Ende 2012 erreichen würden. Ich habe das kurz vor dem 31. Oktober 2011 veröffentlicht. Eine kleine Ironie der Geschichte war, dass ich trotzdem eingeladen wurde, an diesem Tag in New York vor allen versammelten Uno-Delegationen einen Hauptvortrag über die Bevölkerungsentwicklung zu halten.

STANDARD: Wie lauten Ihre Prognosen für das weitere 21. Jahrhundert?

Lutz: Unsere neuesten Vorhersagen, die wir gerade abschließen, zeigen, dass wir bis zur Mitte des Jahrhunderts noch auf rund 9,2 Milliarden Menschen anwachsen und bis zum Ende des Jahrhunderts vermutlich wieder auf rund 9 Milliarden sinken werden.

STANDARD: Wie sicher sind diese Vorhersagen?

Lutz: Dass es ein Abflachen des Weltbevölkerungswachstums gibt, ist ziemlich sicher. Wo genau der Gipfel liegt und wann er erreicht wird, ist noch mit großen Unsicherheiten behaftet. Wir haben für unsere neuen Projektionen über 600 internationale Bevölkerungsexperten befragt und entsprechend umfangreiches Datenmaterial gesammelt. Im Wesentlichen gibt es zwei große Fragezeichen: Zum einen ist unklar, ob und wann in Afrika, wo Frauen nach wie vor durchschnittlich fünf Kinder oder mehr haben, ein Geburtenrückgang einsetzen wird. Eine andere große Frage ist, ob die Geburtenraten auch in Indien so stark nach unten gehen wie in China, wo sie bei 1,5 liegt.

STANDARD: Wie sehen Ihre Prognosen für China aus?

Lutz: Selbst wenn dort die Ein-Kind-Politik weiter gelockert wird, dürfte die Geburtenrate in naher Zukunft mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zunehmen. Der Grund ist schlicht, dass die Wunschkinderzahl in China mittlerweile so niedrig ist: In den großen Städten sagen 80 Prozent , sie wollen überhaupt nur ein Kind. Es dürfte also so sein, dass eine lange Phase der Ein-Kind-Politik zu einer neue Generation führt, bei der ein Kind gewissermaßen die soziale Norm geworden ist.

STANDARD: Das scheint in anderen entwickelten asiatischen Ländern wie Südkorea oder Japan ganz ähnlich zu sein.

Lutz: Richtig. Diese Länder haben mit die niedrigsten Geburtenraten der Welt. In Hongkong liegt der Wert bei weniger als einem Kind pro Frau, in Singapur, wo ich die vergangenen Wochen forschte, liegt er bei 1,2, während wir in Österreich bei etwa 1,4 halten.

STANDARD: Warum ist dieser Wert dort noch niedriger als bei uns?

Lutz: Das ist eine Folge des sehr schnellen sozialen Wandels. Junge Frauen in diesen Ländern haben heute bereits ein sehr hohes Bildungsniveau – während gleichzeitig noch ein traditionelles Familien- und Rollenbild vorherrscht: In Singapur etwa hat mehr als die Hälfte der 25-Jährigen ein abgeschlossenes Universitätsstudium. Das heißt, die jungen Erwachsenen sind dort wesentlich besser ausgebildet als in Österreich. Das traditionelle Normensystem verbietet es den gut ausgebildeten Frauen aber, Karriere und Familie unter einen Hut zu bringen, was in vielen europäischen Ländern heute schon leichter möglich ist. In Ländern wie Singapur oder Südkorea entscheiden sich immer mehr Frauen für die Karriere und haben die Kinder später - wenn überhaupt.

STANDARD: Bei der von Ihnen mitorganisierten Konferenz, die dieser Tage in Wien stattfand, ging es um Demografie und Nachhaltigkeit. Welches Geburtenniveau wäre denn Ihrer Meinung nach ideal?

Lutz: Bisher ist man fast selbstverständlich davon ausgegangen, dass der ideale Wert bei zwei überlebenden Kindern liegt, das heißt etwa 2,1 Geburten. Unsere neueren Modelle zeigen hingegen, dass schon eine Geburtenrate von 1,6 bis 1,8 das Optimum wäre, um das Wohlstandsniveau zu halten. Unsere Zahlen kommen dadurch zustande, dass wir die Bildung explizit berücksichtigen. Besser gebildete Kinder kosten am Anfang mehr, sind dann als Erwachsene aber im Laufe ihres Lebens deutlich produktiver und gehen im Normalfall auch ein paar Jahre später in Pension. Wenn man diese Faktoren einrechnet, dann verschiebt sich die optimale Geburtenzahl nach unten: Man investiert mehr pro Kind, aber in weniger Kinder.

STANDARD: Von diesen Zahlen ist Österreich gar nicht so weit entfernt.

Lutz: Ja, die sogenannte Perioden-Geburtenrate liegt bei 1,43. Rechnet man noch die Verzerrung raus, die dadurch entsteht, dass Mütter immer älter werden, kommt man auf einen Wert von rund 1,7. Auffallend für Österreich ist, dass diese Werte recht stabil sind. In den meisten anderen europäischen Ländern hingegen stiegen die Geburtenraten von 2000 bis etwa 2007 an, sanken in den letzten Jahren aufgrund der Wirtschaftskrise und der Jugendarbeitslosigkeit aber wieder.

STANDARD: Besteht angesichts der Zahlen nicht die Gefahr, dass Österreich schrumpfen oder überaltern wird?

Lutz: Nein. Erstens gehen wir so wie Statistik Austria davon aus, dass die Bevölkerung in Österreich aufgrund der Migration in den nächsten Jahren eher noch weiter wachsen wird. Auch im Hinblick auf die Altersstruktur ist keine Panik angebracht. Klar ist aber, dass wir die sozialen Sicherungssysteme flexibel an die höhere Lebenserwartung anpassen müssen: Menschen sind heute länger gesund und aktiv als früher. Stichwort: 70 ist das neue 60, und viele dieser Menschen wollen ihre Humanressourcen der Gesellschaft zur Verfügung stellen. Zur Zeit wird man aber vom System eher dafür bestraft, wenn man länger arbeiten will.

STANDARD: Lässt sich abschätzen, wie es mit der Migration weitergehen wird?

Lutz: Das ist ein komplexes Thema, bei dem die sogenannten Push- und Pull-Faktoren die entscheidende Rolle spielen. Der entscheidende Pull-Faktor für Österreich war das Hereinholen von Gastarbeitern in den 1960er-Jahren – im Unterschied übrigens zu den nordischen Ländern, wo man damals die Frauenerwerbsquote anhob. Eine zweite Immigrationswelle war dann der Jugoslawienkrieg, was ein eindeutiger Push-Faktor war. In den letzten Jahren dominierte die EU-Binnenmigration. EU-Bürger verfügen im Normalfall auch über eine höhere Bildung, was auch bei der Integrationsfähigkeit der wichtigste Faktor ist.

STANDARD: Sehen Sie in Sachen Migration und Integration demografische Probleme?

Lutz: Ich sehe eher bildungspolitische Probleme, am deutlichsten sicher bei der türkischstämmigen Bevölkerung. Diese hat in Deutschland wie auch in Österreich einen zum Teil niedrigeren Bildungsgrad als in der Westtürkei, die sich rapide modernisiert. Manche der gut ausgebildeten Türken, die in Österreich und Deutschland lebten, ziehen wieder zurück nach Istanbul, um vom dortigen Wirtschaftsboom zu profitieren. Hier hingegen holen sich oftmals türkischstämmige Männer wieder eine geringer gebildete Frau aus Anatolien nach. Diese Situation stellt einen gewissen sozialen Sprengstoff dar, aber gerade auch hier wäre eine geeignete Bildungspolitik die entscheidende Integrationsschiene.

STANDARD: Finden Sie mit Ihren Erkenntnissen eigentlich bei der Politik Gehör?

Lutz: Integrationsstaatssekretär Kurz ist zweifellos jemand, der sich immer wieder Wissenschafter einlädt und ihnen unvoreingenommen zuhört. Aber es gibt natürlich auch Parlamentarier oder Provinzpolitiker, die eine voreingenommene Meinung haben und eher nicht auf das hören, was Experten dazu sagen hätten. Ich hoffe in dieser Frage sehr auf einen Generationenwechsel bei den Politikern.

STANDARD: Apropos Generationenwechsel: Sie haben zuletzt auch für das Präsidentenamt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) kandidiert. Warum hätten Sie sich das angetan?

Lutz: Ich habe mich in den letzten Jahren für die Reform der ÖAW stark gemacht, insbesondere für die Entflechtung von Gelehrtengesellschaft und Forschungsträgergesellschaft. Als mich dann die Findungskommission kurz vor Weihnachten fragte, ob ich zur Verfügung stehen würde, wollte ich nicht kneifen. Die zweite Motivation war, dass ich mit meiner Forschung genau das leisten möchte, was mir für die ÖAW vorschwebt: Nicht nur beim Forschen selbst die Speerspitze zu bilden, sondern auch in der öffentlichen Diskussion Vorreiter bei der Erklärung der Bedeutung von Wissenschaft für die Gesellschaft zu sein.

STANDARD: Sind Sie enttäuscht, dass Sie nicht gewählt wurden?

Lutz: Ich hatte schon vor der Wahlsitzung vermutet, dass mein klares Reformprogramm in der derzeitigen Zusammensetzung der Akademie kaum mehrheitsfähig sein würde. Und ich bin natürlich auch froh, dass ich mich in den nächsten Jahren weiterhin meiner Forschung widmen kann. Gleichzeitig hoffe ich, dass eine saubere Entflechtung von Gelehrtengesellschaft und einer nach professionellen und internationalen Maßstäben gemanagte Forschungsträgergesellschaft durchgezogen wird.

STANDARD: Sehen Sie bei der ÖAW auch ein demografisches Problem?

Lutz: Es ist zweifellos so, dass es in etlichen anderen Akademien ein Alterslimit gibt, zumal Akademiemitglieder im Schnitt länger leben als die übrige Bevölkerung. In der Berlin-Brandenburgischen Akademie etwa können sich Mitglieder über 70 Jahren zwar noch in alle Diskussionen einbringen, sind dann aber nicht mehr stimmberechtigt.

STANDARD: Sie haben bis kurz vor der Wahl Mitte März einige Wochen in Singapur geforscht, das als aufstrebendes Land nicht zuletzt in Sachen Technologie gilt. Wie steht Österreich im Vergleich zu Singapur da?

Lutz: Nicht so gut. Noch in den 1960er-Jahren war Singapur im Grunde ein Malaria-verseuchtes Sumpfgebiet mit 80 Prozent Analphabeten. Dann aber hat das Land massiv in seine Humanressourcen, also vor allem in Bildung investiert. Das zeigte dann ab den 1980er-Jahren Früchte auf allen Ebenen: Es kam eine neue gebildete Generation ans Ruder, die Infrastruktur verbesserte sich und ein enormes Wirtschaftswachstum folgte. Heute gibt man in Singapur pro Kopf mehr als drei Mal so viel für Grundlagenforschung aus als in Österreich, für angewandte Forschung gar fast fünf Mal so viel.

STANDARD: Kann da überhaupt noch ein europäisches Land mithalten?

Lutz: Die Schweiz, die Niederlande und die skandinavischen Länder halten sich nach wie vor im globalen Spitzenfeld bei der Innovation. Österreich hat zwar in den vergangenen Jahren aufgeholt, ist aber derzeit in Gefahr, den Anschluss doch nicht zu schaffen. Viel wird sicher von den Weichenstellungen der nächsten Zeit abhängen. Im Moment scheint die politische Diskussion vor allem durch negative Themen wie Korruption bestimmt zu sein und nicht von positiven Zukunftsthemen wie Investitionen in Forschung und Technologie. Von diesen Investitionen hängt es aber ab, ob wir langfristig den Wirtschaftsstandort und damit unseren Wohlstand sichern können. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 27.3.2013)