Kim Stanley Robinson: "2312"
Broschiert, 590 Seiten, € 15,50, Heyne 2013 (Original: "2312", 2012)
Nach dem Buch, das im Vorjahr Hugo und Nebula abgeräumt hat, kommt nun also mit Kim Stanley Robinsons langerwarteter Rückkehr auf den deutschsprachigen Markt ein Roman, der heuer in beiden Bewerben antreten wird. Kurz zusammengefasst: Ich würde für die Konkurrenz stimmen.
Terraforming ohne Rücksicht auf Verluste
"2312" entspricht ganz dem "Zurück-ins-Sonnensystem"-Trend, der schon seit einigen Jahren in der SF zu verzeichnen ist. Der Rest des Universums wird weitgehend als das abgehakt, was er im Grunde ist: unerreichbar. Nicht dass dieses neue Weltraumbiedermeier für Robinson selbst einen Umbruch bedeuten würde, er hat mit seiner berühmten "Mars-Trilogie" in den 90ern diesbezüglich sogar Maßstäbe gesetzt. "2312" greift das Grundmotiv der Trilogie erneut auf: Terraforming ist das zentrale Thema des Romans. Über 19.000 Himmelskörper im Sonnensystem wurden besiedelt, seien es ausgehöhlte Asteroiden, die als mobile Terrarien irdischen Biotopen Asyl gegeben haben, seien es sämtliche Gesteinsplaneten und größeren Monde.
Angst vor radikalen Methoden hatte man dabei nicht; so wurde z.B. der Saturnmond Dione komplett verwurstet, weil sein Wassereis gebraucht wurde. Liest man dazu einige sachbuchartige Passagen, in denen Habitatbau und planetare Umgestaltung im launigen Ton einer Do-it-yourself-Anleitung dargestellt werden, raunt einem unwillkürlich eine innere Stimme "Vorsicht, Hybris!" zu. Aber Robinson hat dazu eine ebenso klare wie achtbare Einstellung: [...] letztlich sind wir dazu da, uns ins Universum einzuschreiben, und es ist durchaus angemessen, dass wir uns daran erinnern, wenn man uns ein leeres Blatt hinhält. Landschaftskunst erinnert uns immer wieder daran: Wir leben auf einer Tabula rasa und müssen auf ihr schreiben. Es ist unsere Welt, und ihre Schönheit existiert allein in unseren Köpfen.
Zur Handlung
Hauptfigur Swan Er Hong, eine Land-Art-Künstlerin und ehemalige Terrarien-Designerin, lebt auf dem Merkur. Genauer gesagt in Terminator, einer Stadt auf Schienen, die in konstanter Geschwindigkeit vor dem apokalyptischen Sonnenaufgang des innersten Planeten herrollt. Bis ein Anschlag die ewige Reise der Stadt beendet. Zudem ist kurz davor die "Löwin des Merkur", Swans Großmutter, verstorben - ein verdächtiger Zufall. Swan erfährt, dass ihre Großmutter weit über den Merkur hinaus politisch aktiv war, und sieht sich widerwillig in die Rolle gedrängt, das Erbe der Löwin anzutreten.
Alles in allem ist Swan eine sehr interessante, weil vielschichtige Figur. Sie wirkt oft abweisend, hilft aber auch selbstlos einem Klimaflüchtling dabei, die Erde zu verlassen und ein neues Leben zu beginnen. Und sie kann sich wie ein Kind über das Erleben der Natur freuen, den Aufgang der Riesensonne über ihrer Heimat genießt sie ebenso wie den blauen Himmel der Erde. Ihre Persönlichkeitsfacetten spiegeln sich gewissermaßen auch körperlich wider, denn da hat Swan große Experimentierfreude bewiesen. Sie trägt ein Quantencomputer-Implantat (mit dem sie gerne herumzickt), hat verschiedene Gehirnregionen mit Tier-DNA aufmotzen lassen und sogar einen Cocktail aus außerirdischen Mikroben geschluckt. Ach ja, und sie hat einen kleinen Penis. Letzteres ist in Robinsons Zukunftswelt des polysexuellen Hermaphroditismus aber eher die Regel als die Ausnahme.
Drei Elemente bilden das Handlungsgerüst von "2312": Anschläge auf Weltraumhabitate, das undurchsichtige Auftreten von Qubes (Künstlichen Intelligenzen auf Quantencomputerbasis) und Swans langsam wachsende Beziehung zu Fitz Wahram, dem Botschafter der Saturn-Liga. Ein musischer "Froschmensch" und eine ebenso empfindsame wie langweilige Seele. All das ist jedoch ein eher lockerer Rahmen für eine mäandernde Reise durchs Sonnensystem. Swan marschiert mit Wahram durch die Tunnel unter der Merkur-Oberfläche und diskutiert dabei über Beethoven, surft auf den Wellen der Saturnringe, bestaunt die Versuche, den grönländischen Eisschild zu retten und so weiter und so fort. In den besten Momenten erzielt Robinson dabei echten Sense of Wonder; in anderen fragt man sich, ob das alles auch mal irgendwo hinführen wird.
Merk dir das ...
"2312" ist aber nicht einfach eine Rundreise durchs Sonnensystem, es ist eine Bildungsreise. Robinson hat zwei Sorten von nicht-epischen Elementen in den Roman eingebaut. Das eine sind sogenannte Listen, Assoziationsblaster-artige Aneinanderreihungen von Begriffen aus einem bestimmten Themenfeld. Das können topologische Bezeichnungen sein, aber auch Weltraumantriebsmodelle, Zufriedenheitsfaktoren oder Extremsportarten der Zukunft ... einmal auch (im Gesamtkontext etwas pikant) Synonyme für Langeweile.
Das zweite sind Auszüge, die lexikalisches Wissen wiedergeben, heutiges oder das der Romanwelt. Zum Beispiel zum Aufbau der Planeten oder zu den historischen Epochen, die der Romangegenwart vorausgingen (Accelerando - Ritardando - Balkanisierung des Sonnensystems). Das ist mal interessant, mal relativ banal. Und "Auszüge" ist wörtlich zu nehmen, denn nur ein Teil davon ist vollständig ausformuliert. Der Rest sind Sätze bzw. Absätze wie: "drei Prozent der Säugetiere sind monogam. Im Spiel lernen Säugetiere, wie sie mit Überraschungen", und aus. Mag ja ein Stilmittel sein und in ihrer Masse gar nicht mehr erfassbare Wissensmengen suggerieren. Unterm Strich sind's aber einfach unvollständige Sätze, und auf Dauer geht das zumindest mir auf den Zünder.
Das ist aber noch nicht alles, auch innerhalb der eigentlichen Erzählung wird reichlich doziert. Bis hin zu Schul-Dialogen à la: "Erzähl mir mehr von den Gründen für Revolutionen." - [weitschweifige Erläuterung] - "Das waren alles Klassensysteme?" - [weitschweifige Erläuterung] - "Also gab es nie eine klassenlose Gesellschaft." - [weitschweifige Erläuterung]. Viel uneleganter hätte Frank Schätzing das auch nicht hinbekommen.
Kritikpunkte
"2312" hat ein gemischtes Echo ausgelöst. Ich empfehle auch einen Blick auf die Sternvergabe auf Amazon.com: Eine derartige Gleichverteilung hab ich noch nie gesehen. Verwundern kann das nicht. Ein Text, der erstens Hard SF ist und zweitens - durchaus zu Lasten einer flüssigen Handlung - derart massiv auf Wissensvermittlung setzt, muss sich natürlich auch Kritik am Umgang mit Fakten gefallen lassen.
Die einen bemängeln, dass es Robinson mit der Physik nicht so genau genommen habe, die anderen vermissen Details zum utopisch anmutenden wirtschaftspolitischen System der Raumer. In der Tat wird nicht wirklich klar, warum die Menschen draußen alles soviel besser machen sollten als daheim auf "dem einzigen Schlamassel" Erde. Da kommt auch wieder die beim Terraforming erwähnte Macher-Attitüde durch, und irgendwie klingt da doch ein Zug von "Wir in der Neuen Welt zeigen euch, die ihr die Alte verbockt habt, mal, wie's richtig geht" an.
... selbst wenn der Aktionismus haarsträubende Ausformungen annimmt. Ich wage es zu bezweifeln, dass man ein planetares Ökosystem wieder aufbauen kann, indem man die im All nachgezüchtete Tierwelt einfach über der Erde - buchstäblich - abwirft und dann alles sich selbst überlässt. Bei Cordwainer Smiths "When the People Fell" ergab das ein wunderschönes Bild, aber "2312" soll ja Hard SF sein und kein Zukunftsmärchen.
Erstickt am eigenen Anspruch
Vergleiche mit John Brunners "Stand on Zanzibar" waren vielerorts zu lesen. "2312" fällt ja auch in dieselbe Kategorie von in Collage-Technik erstellten 360-Grad-Panoramen. Das schwebt schon von seiner Grundanlage her unweigerlich an der Grenze zwischen dem Meisterlichen und dem Prätentiösen. Und das jüngste vergleichbare Beispiel ist mit David Brins "Existenz" noch gar nicht so lange her. Vielleicht ist das auch ein bisschen das Pech mit "2312": Einmal Die-ganze-Welt-in-einem-Buch alle fünf Jahre würde nämlich auch reichen.
Zumal es einen für den Sympathiewert nicht unwichtigen Unterschied dann doch gibt: "Existenz" war eine als Roman verkappte Diskussion. Während ich einfach den Eindruck nicht abschütteln kann, dass "2312" eine als Roman verkappte Belehrung ist.