Die Ärmel seines Kapuzenpullovers sind hochgekrempelt, auf seinen Unterarmen zeichnen sich Ölspuren einer Fahrradkette ab. "Ich war damals 20 Jahre alt, arbeitslos und bin vorm Hofer gestanden, als ich einen extrem coolen Typen mit einem extrem coolen Rad gesehen habe. Da habe ich mir gedacht: So möchte ich auch sein", erzählt Mex in der Werkstatt seines Arbeitgebers.

Daraufhin fasste der heute 27-jährige Wiener den Entschluss, bei einem Botendienst anzuheuern. Seitdem verdient er seinen Lebensunterhalt damit, Gegenstände aller Art mit dem Fahrrad in Wien von A nach B zu transportieren.

Mex ist seit eineinhalb Jahren Fahrradkurier beim RadbotInnendienstes Hermes.
Foto: derStandard.at/mittendorfer

Die ersten Jahre versuchte Mex sein Glück bei einem großen Botendienst in Wien. Schließlich stieß er vor eineinhalb Jahren auf den Botendienst Hermes, bei dem rund 20 Radboten arbeiten – vier bis fünf von ihnen hauptberuflich. Statt ihres bürgerlichen Namens tragen die Boten im Dienst Bezeichnungen wie Orca, Fux oder Laus. Auch Mex ist nur der Berufsname, aber jeder in der Rad-Community weiß, um wen es sich dreht.

Unkonventioneller Arbeitsalltag

Die Zentrale von Hermes liegt in der Zirkusgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk. Die Wände des Büros sind mit Stickern und Plakaten übersät, abmontierte Fahrradreifen und Werkzeug liegen auf dem Boden. Mehrere Fahrräder sind in der Mitte des Raumes geparkt und stehen für den nächsten Einsatz bereit.

Hinter einem Schreibtisch sitzt Laus, der als Disponent die eintreffenden Aufträge koordiniert. Zwei Radboten haben es sich auf der zerschlissen Ledercouch gemütlich gemacht, um bis zum nächsten Anruf einmal durchzuschnaufen.

Die Wände bei Hermes sind mit Plakaten und Stickern übersät.
Foto: derStandard.at/mittendorfer

Wiens einziges RadbotInnenkollektiv

Doch nicht nur die Einrichtung, auch die Organisation des Botendiensts ist ungewöhnlich: Hermes ist Wiens einziges RadbotInnenkollektiv und agiert als gewinnorientierter Verein. "Wir sind mehr eine Familie als ein Unternehmen und verbringen auch unsere Freizeit oft miteinander und helfen uns gegenseitig, unsere Räder auf Vordermann zu bringen", sagt Mex.

Beim monatlichen Plenum werden alle Entscheidungen gemeinsam getroffen, alle Radboten sind dabei gleichberechtigt. "Natürlich gibt es da Reibereien, aber wir schlagen uns durch", sagt Mex mit einem Schmunzeln.

Aus erstem Botendienst hervorgegangen

Nach diesem Prinzip funktioniert der Botendienst mittlerweile seit 20 Jahren. Hermes ist damals als Abspaltung von Wiens erstem Botendienst Veloce entstanden. Veloce gibt es bereits seit 26 Jahren und hat heute – nach mehreren Standortwechseln – seinen Sitz Am Modenapark im dritten Wiener Gemeindebezirk. Dort sind mittlerweile rund 50 Radboten beschäftigt.

Die Zentrale des RadbotInnendiensts Hermes in der Zirkusgasse im zweiten Wiener Gemeindebezirk.
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Umweltfreundlicher Transportdienst

Ursprünglich waren bei Veloce nur Fahrradkuriere unterwegs, heute werden aber auch Zustellungen mit motorisierten Fahrzeugen angeboten. Grund dafür war laut Veloce-Mitarbeiterin Griseldis Bolzer, dass die Nachfrage nach Transporten mit dem Auto in den vergangenen Jahren immer größer wurde und manches nur mit dem Auto befördert werden könne.

Um trotzdem umweltfreundlich zu bleiben, arbeitet Veloce klimaneutral. Das heißt: Alle Emissionen, die durch die Dienstleistungen entstehen, werden durch Investitionen in Klimaschutzprojekte ausgeglichen.

Alternative Lastenräder

Bei Hermes würde das laut Mex nicht in Frage kommen. Wenn es Aufträge für den Transport von schweren Gütern gibt, vermittelt Hermes diese an Heavy Pedals weiter, einen auf Zustellungen mit Lastenrädern spezialisierten Fahrradbotendienst. Mit diesen Rädern können bis zu 100 Kilogramm transportiert werden. Für die Zukunft plant Hermes, ein eigenes Lastenrad anzuschaffen.

Die Heavy Pedals transportieren mit Lastenrädern Güter bis zu 100 Kilogramm.
Foto: Heavy Pedals

Prekäre finanzielle Situation

Ob mit oder ohne motorisierte Fahrzeuge, der Kampf ums wirtschaftliche Überleben ist im Moment für keinen Botendienst einfach. "Die goldene Zeiten für Fahrradboten sind vorbei", sagt Mex. Und auch bei Veloce ist die Auftragslage laut Bolzer zurückgegangen.

Ein Grund ist, dass Dokumente verstärkt per E-Mail verschickt werden, aber auch die Wirtschaftskrise spielt mit hinein, heißt es von den beiden Anbietern. Zum Vergleich: Während bei Hermes pro Tag durchschnittlich 50 Aufträge eintrudeln, sind es bei Veloce in etwa 400.

Unterschiedliche Entlohnungsmodelle

Die angespannte wirtschaftliche Situation hat auch Auswirkungen auf den Verdienst der Boten. Bei Hermes wird der Umsatz durch die gefahrenen Stunden der Fahrradkuriere dividiert. Jeder erhält denselben Stundenlohn. Dieser bleibt laut Mex unter zehn Euro, weswegen er nur mit "Ach und Krach" von seinem Radbotendasein leben könne.

Anders ist das bei Veloce: Hier arbeiten die Fahrer auf Provisionsbasis. Je mehr Aufträge sie annehmen und je schneller sie fahren, desto mehr verdienen sie. Routinierte Fahrer wie der 47-jährige Adlerauge, der seit zehn Jahren als Radbote arbeitet, können sich so ein gesichertes Einkommen erwirtschaften. Pro Tag legt er zwischen 80 und 100 Kilometer zurück, wobei er in etwa einen Euro pro Kilometer verdient.
Bote Adlerauge legt 80 bis 100 Kilometer am Tag mit dem Fahrrad zurück und ist am Umsatz seiner Fahrten beteiligt.
Foto: derStandard.at/mittendorfer


Trotzdem bleibt Mex von dem System bei Hermes überzeugt: "Bei uns tut jeder, was ihm möglich ist. Außerdem wird so die Teamarbeit gefördert." Gerade für Neuanfänger sei das Arbeiten mit Umsatzbeteiligung schwierig, weil die Fahrer länger brauchen und somit weniger Aufträge annehmen können.

Männlich dominiertes Berufsfeld

Doch nicht nur in der Art der Bezahlung unterscheiden sich die beiden Botendienste. Wie in der männlich dominierten Branche üblich, ist auch bei Veloce der Frauenanteil gering: Es gibt nur fünf Fahrerinnen. "Viele unterschätzen die körperliche Belastung und den Zeitdruck. Man muss einfach der Typ dafür sein", sagt Adlerauge.

Jule und Laus machen eine Pause in der Zentrale von Hermes.
Foto: derStandard.at/mittendorfer

Die Meinung, dass der Job für Frauen zu anstrengend sei, kann die 23-jährige Lotta-Otta nicht nachvollziehen. "Mich haben noch nie Kunden gefragt, wieso kein kräftiger Mann statt mir fährt."

Die Studentin der Internationalen Entwicklung tritt seit eineinhalb Jahren zweimal pro Woche für Hermes in die Pedale – und ist dort in bester weiblicher Gesellschaft. Seit seiner Gründung achtet der Botendienst darauf, dass die Hälfte des Teams Frauen sind. "Am Ende muss jeder dieselbe Leistung erbringen", sagt Mex. Wichtiger als Geschwindigkeit sei es ohnehin, die beste Streckenführung zu finden.

Bestens ausgerüstet

Damit man weiß, wie man am besten fährt, braucht es laut Adlerauge aber Zeit. Nicht immer sei es sinnvoll, den kürzesten Weg auf der Karte zu nehmen. Trotzdem gehöre eine Stadtkarte neben dem übergroßen Rucksack, Flickzeug und einem Reserveschlauch zur Grundausrüstung eines jeden Fahrradboten. "Reparaturzeug braucht man zwar nicht oft, aber immer im falschen Moment", so Adlerauge.

Das zehnjährige Botendasein hat Spuren in Adlerauges Stadtplan hinterlassen.




Foto: derStandard.at/mittendorfer

Pannen und Patschen sind aber nicht die einzigen Widrigkeiten, die einem Fahrradboten passieren. Die Kuriere sind auch permanent den Gefahren der Straße ausgesetzt. Plötzlich aufgerissene Autotüren und Ärger mit rücksichtslosen Verkehrsteilnehmern gehören zum Arbeitsalltag.

Die Bilanz nach Lotta-Ottas eineinhalbhjärigem Botendasein: drei Unfälle und ein geschrottetes Fahrrad. "Mit Stürzen muss man rechnen", sagt auch Adlerauge. Im Verhältnis dazu, wie viel die Kuriere auf der Straße unterwegs sind, passiere aber wenig, meint Griseldis Bolzer von Veloce.

Das Klischee von den Rad-Anarchisten

An Fahrradboten haftet oft das Klischee von Rad-Anarchisten, die sich nicht an die Straßenverkehrsordnung halten und im ständigen Clinch mit den Autofahrern liegen. Adlerauge kennt zwar auch einige davon, sie seien aber in der Minderheit: "Das sind halt die, die auffallen." Er selbst habe nie Probleme mit Autofahrern oder Polizei. "Radboten, die länger dabei sind, wissen, wie schnell sie fahren können und wie man sich gegenüber allen anderen Verkehrsteilnehmern respektvoll verhält", erklärt der arrivierte Radkurier.

Lotta-Otta hingegen macht immer wieder negative Erfahrungen mit Autofahrern. "Ich muss mich schon öfter ziemlich aufregen und werde angehupt oder angeschrien. Das ist aber sowieso normal, wenn man in der Stadt Fahrrad fährt."

Mehr als ein Job

So verschieden die beiden Botendienste organisiert sind, in einem Punkt herrscht unter den Fahrradkurieren Einigkeit: "Das ist eine Lebenseinstellung." Viele von ihnen können sich nur schlecht vorstellen, einen anderen Job zu machen.

Der 45-jährige Laus von Hermes ist seit 20 Jahren Radbote und überlegt, im Herbst mit dem Fahren aufzuhören. Ob es ihm gelingen wird, weiß er nicht. Jedes Jahr verbringt er ein paar Monate in Asien. Das Einzige, was ihm dort fehlt, sei das Radfahren. "Das ist wie eine Sucht. Wenn du einmal angefangen hast, kannst du nicht aufhören." (Elisabeth Mittendorfer, derStandard.at, 8.4.2013)