"Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten".

Foto: Nagel & Kimche

Wieso eigentlich nicht? Wieso eigentlich nicht dem in der Nähe von Luzern lebenden Reporter Erwin Koch endlich einmal einen Literaturpreis für Romane verleihen? Schließlich sind seine Texte welthaltiger, ergreifender und nachhallender als so viele Romane deutscher Sprache, die im letzten Jahrzehnt erschienen sind.

Koch ist ein Finder wahrer Geschichten. Deshalb gab er auch seiner jüngsten Sammlung von zehn Reportagen ebendiesen Untertitel. Aus zehn Jahren stammen sie, die älteste erschien im Februar 2002, die jüngste im November 2012. Gedruckt wurden sie in sieben sehr unterschiedlichen Periodika, im Schweizer "SonntagsBlick" und der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit", ein Text über zwei schwule südamerikanische Priester, die als Liebespaar gemeinsam ihren Tod arrangierten, im kirchenkritischen "Stern", andere in "Das Magazin" (Berlin).

Vor vier Jahren publizierte der Schweizer Reporter Georg Brunold das beeindruckende Mammutwerk "Nichts als die Welt". 164 Reportagen aus 2000 Jahren enthielt es, von Thukydides bis Enzensberger, von arabischen Reisenden des Mittelalters bis zu Janet Flanner, Marie-Luise Scherer und Karl-Markus Gauß. In diesem mehrere Kilo schweren Grabstein dieses Genres nicht vertreten war merkwürdigerweise Erwin Koch. Wieso Grabstein? Weil die zeitgenössische Publizistik, in Printgestalt wie in reinen Onlinemagazinen, die lange Reportage nur noch am Rande pflegt, als okkasionelle "Zumutung".

Ein Teenager, der nach zwei Jahren Behandlung dem Krebs erliegt. Ein Baby in den Niederlanden, das 260 Tage nach der Geburt an einer extrem seltenen Hautkrankheit stirbt. Ein Schweizer Konditor, der seine Homosexualität entdeckt. Ein Physiker am Cern, der Großforschungseinrichtung bei Genf, der am Large Hadron Collider mitarbeitet. Der Maler Jörg Immendorff, schwer gezeichnet von amyotropher Lateralsklerose (die schwächste Geschichte, weil Immendorff Koch narzisstischen Eigensinn entgegensetzt).

Keine abstrakten Sätze

Eine 96-jährige Engländerin, deren Vater, als angeblicher Feigling im Ersten Weltkrieg füsiliert, offiziell rehabilitiert wird. Agnes, 51, die ihre vierzehnjährige Tochter ersticht. Sieben Uiguren, die jahrelang in Guantánamo inhaftiert sind und dann nach Albanien abgeschoben werden. Ein Gewerkschafter in der brasilianischen Provinz auf der Flucht vor Killern einiger Großgrundbesitzer.

Was verbindet alle diese Szenerien, Personen, Schicksale? Die Neugier Erwin Kochs. Seine Sensibilität. Und seine Methode, die Menschen selber zu Wort kommen zu lassen, jeden abstrakten Satz zu vermeiden. Besonders wirkungsvoll und tiefgehend ist dies in den beiden Kindertodtengeschichten "Eigentlich eine Liebesgeschichte und Zweihundertsechzig Tage", in dem zwei junge Eltern um den Tod ihres Babys bitten, das nur unter größten Qualen leben kann. Und dann, am 260. Tag, in den Armen seines Vaters stirbt.

Mikrokosmen, die Tragödien enthalten, Schmerzhorizonte aufreißen, intensiv unter die Haut gehen. Auskristallisiert multiple Romane sind es, buchstäblich raffiniert. (Alexander Kluy, Album, DER STANDARD, 23./24.3.2013)