Der STANDARD, eine der größten Tageszeitungen Österreichs, hat kurz vor dem 75. Jahrestag des "Anschlusses" an das "Dritte Reich" eine Umfrage durchgeführt, deren Ergebnisse viele verwundert haben: 42 Prozent der Befragten erklärten, dass unter Hitler "nicht alles schlecht war", und 61 Prozent räumten ein, dass sie nichts gegen einen "starken Führer" an der Macht hätten, der unabhängig vom Kampf der politischen Parteien untereinander sei.

Nun kann man natürlich entrüstet die Augen verdrehen und mit den Schultern zucken. Man kann Österreich vorwerfen, dass es nicht sonderlich aktiv und konsequent bei der Entnazifizierung war - was übrigens großteils sogar richtig ist. In der 1943 verabschiedeten Moskauer Deklaration der Anti-Hitler-Koalition wurde Österreich das " erste freie Land, das dem Nazismus zum Opfer fiel" genannt. Dieser Status gewährte einen gewissen Ablass - zumindest im Vergleich mit Deutschland -, was die Verbrechen und Vergehen vieler Österreicher in den sieben Jahren betraf, die dem "Anschluss" folgten. Es ist kein Zufall, dass ein bekannter Witz lautet, die Wiener Diplomatie habe zwei Haupterfolge erzielt: Sie habe alle davon überzeugt, dass Beethoven ein Österreicher sei und Hitler nicht.

Es gibt aber auch eine andere Seite der Medaille. Das sind die seit langem verfestigten demokratischen Traditionen in Österreich und der relativ tiefe Fall der extrem rechten FPÖ, wegen deren Regierungsbeteiligung die EU 1999 noch Sanktionen gegen Wien verhängte. Das sind auch die Entschädigungen, die österreichische Firmen, die während des Nationalsozialismus von Zwangsarbeit profitierten, den Opfern zahlen. Und selbst die - aus meiner Sicht maximalistische - Forderung, eine Straße in Salzburg umzubenennen, die den Namen des großen Dirigenten und ehemaligen NSDAP-Mitglieds Herbert von Karajan trägt.

Dass ein Teil der Österreicher dem Krypto-Faschismus anhänge, wie die dortige Presse schreibt, ist zu hart ausgedrückt. Ja selbst bei dem unterschwelligen Hang zur "starken Hand" ist Österreich nicht allein. In Rumänien verklärt Umfragen zufolge eine Mehrheit die Zeit unter Ceausescu. Und wenn wir die Grenzen Europas verlassen, so waren wir alle Zeugen, wie Venezuela bittere Tränen am Grab von Hugo Chávez vergossen hat. Dabei gibt es keinen Zweifel daran, dass die Österreicher, die Hitler für "nicht so schlimm" halten, keineswegs Befürworter der Gaskammern, und die Rumänen, die Ceausescu verehren, in der Mehrzahl keine fanatischen Kommunisten sind. Und was die armen Chávez-Anhänger betrifft, so ist es hier noch einfacher: Sie verheimlichen nicht, dass sie um den Comandante weinen, weil sie anfingen, unter ihm ein bisschen besser zu leben.

Ich riskiere die Annahme, dass Führer-Sympathien gar nichts Ungewöhnliches sind. Das Gedankenbild normaler Menschen ist so, dass sie das Einfache dem Schwierigen vorziehen - und eine Diktatur ist nun mal einfacher als eine Demokratie. Ja, und die Alltagssorgen sind verständlicher und näher als ideologische Abstraktionen. Das ist normal und wird immer so sein. Das heißt nicht, dass der Durchschnittswähler in jedem Fall dumm und zynisch ist und mit dem "Bauch" entscheidet. Das heißt aber, dass demokratische Politik aus einer Kombination von " Höherem" und "Niedrigem", Werten und Pragmatismus, Strategie und Alltäglichkeit erwachsen muss. Anderenfalls kann die Liebe zu Ordnung und (teils recht bescheidenem) Wohlstand der Mehrheit der Bevölkerung den Blick darauf verstellen, welchen Preis so eine Ordnung kostet.

Russland hat in dieser Beziehung - was ansonsten selten ist - Europa überholt. Die Wahl zwischen Demokratie und der tatsächlichen oder fiktiven Stabilität des Autoritarismus wurde hier vor 13 Jahren getroffen. Das Resultat war die politische Karriere Wladimir Putins. Sie ist im eigentlichen Sinne schon keine politische mehr, da in der Putin' schen Epoche echte und vollwertige Politik fast vollständig verschwunden ist. Eine Politik also, die als legitimer und im Rahmen legaler und unabhängiger politischer Institute formalisierter Dialog über gesellschaftliche Perspektiven, über "Höheres" und "Niedriges", über nationale Interessen, Steuersätze und den Straßenzustand geführt wird.

Angebot und Nachfrage

Europa ist noch nicht so weit, obwohl es sich dem Anschein nach schon dahin bewegt. Freilich aus anderem Grund: nicht weil die Obrigkeit den Monolog dem Dialog vorzieht, sondern weil die Stimmen sich in diesem Dialog so ähneln, dass sie kaum noch zu unterscheiden sind. Die traditionelle Parteipolitik hat sich, indem sie erfolgreich rechte und linke Ideen vereinte, in der Epoche von Politikern à la Tony Blair zum reinen Management gewandelt. Aber dann kam die Krise, und die Nachfrage nach einer Politik der Ideen und Lösungen anstelle von Polittechnologie stieg. Bisher kommt das Angebot mit der Nachfrage nicht mit. Daher auch solche Ausbrüche wie die Protestwahlen in Italien oder Straßenproteste in Bulgarien. Daher rührt auch die Nostalgie nach autoritären Führern wie in Österreich und Rumänien. Heutiger Frust und das Verlangen nach Stabilität wird der Vergangenheit "übergestülpt". Die Antwort von 42 Prozent der vom Standard Befragten muss also gelesen werden: "So schlimm wird es unter einem Führer schon nicht werden."

Und das ist es, was wirklich erschreckend ist. Denn wenn das Verlangen nach Stabilität um jeden Preis zu stark wird, dann bestimmt den Preis derjenige, der die Gesellschaft davon überzeugt: Bei ihm "wird es schon nicht so schlimm werden". Und hier kann man sehr leicht einen zu hohen Preis zahlen. (Jaroslaw Schimow, DER STANDARD, 23./24.3.2013)