Wurde eben für den hochdotierten Deutschen Filmpreios 2013 nominiert: "Vergiss mein nicht".

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Wien - Wer ist der ältere Mann, der den beiden Neuankömmlingen da entgegenkommt? "Ich bin dein Mann," sagt er. Die Frau blickt ihn skeptisch an - der Jüngere, mit dem sie angereist ist, gefiele ihr besser. Aber das ist der Filmemacher David, ihr Sohn. Nicht nur die Verwandtschaftsverhältnisse müssen immer wieder aufs Neue geklärt werden, seit Gretel Sieveking an Alzheimer erkrankt ist.

"Während meine Mutter ihr Gedächtnis verliert, wird mir klar, wie wenig ich über sie weiß", stellt der Regisseur fest. Der Fokus seines Films, der Vergiss mein nicht heißt, beginnt sich zu erweitern und zu verlagern: vom Alltag mit der von ihrer Krankheit gezeichneten, über 70-jährigen Gretel zu deren Vorleben und damit auch zum Generationenbild. Die Eltern, geboren während des Zweiten Weltkriegs, lernen einander als Studenten kennen; beide schließen ihre Studien ab, mit der Geburt des ersten Kindes scheint sich dann eine klassische Rollenverteilung zu etablieren.

Der Sohn, ein Nachzügler, Jahrgang 1977, erinnert Familienleben und Ehe der Eltern harmonisch. Langsam beginnt dieses Bild differenzierter zu werden - und dabei bekommt nicht zuletzt Gretel Profil, die sich politisch engagierte, im Zürich der späten 1960er-, frühen 1970er-Jahre als "Mutter der Revolution" mit der kleinen Tochter für die Opposition in Chile auf die Straße ging und sich nach der Rückkehr in Deutschland der Frauenbewegung anschloss.

Vergiss mein nicht ist der zweite Kinofilm von David Sieveking. Schon im ersten, David wants to fly (2010), stand der Regisseur - als rastloser Bewunderer seines Kollegen David Lynch, der sich zum Skeptiker wandelt - auch als Akteur vor der Kamera. Diesmal steht jedoch nicht er selbst im Mittelpunkt - seine "Regieeinfälle" müssen sich am Eigensinn seiner Mutter messen: Die folgt zwar den Lockrufen an den Frühstückstisch, aber ins Freibad will sie nicht. Manchmal sieht sie verängstigt aus, als wisse sie etwas über ihren Zustand, das sie aber nicht artikulieren kann. In anderen Situationen entwickelt sie freundlichen Witz, ist klar und logisch in ihren Überlegungen.

Der mancherorts erhobene Vorwurf, der Regisseur würde die Lage ausbeuten und seine Mutter vorführen, sieht darüber genau so hinweg wie über den Umstand, dass auch diese letzten, behutsam erzählten Jahre Teil der facettenreichen Biografie der im Februar 2012 verstorbenen Gretel Sieveking sind.    (Isabella Reicher, DER STANDARD,  23./24.3.2013)