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Das Leben durch die Cannabis-Brille: Drogenkonsum wird - im Rahmen gewisser Grenzen - in Portugal seit 2001 nicht mehr geahndet. Prophezeite Worst-Case-Szenarien blieben aus.

Foto: REUTERS/RAFAEL MARCHANTE

Zaghaft erwacht Lissabon, während ein sehr ausgeschlafener DJ um neun Uhr morgens das Europa, einen After-Hour-Club unweit des Praça do Comércio, beschallt. Den Schweißgeruch überdeckt den süßlichen Cannabis-Rauch nur bedingt. Offen werden Amphetamine wie Speed, MDMA - (Haupt-)Bestandteil von Ecstasy - und Kokain konsumiert. Was in Techno-Szenen anderer europäischer Städte meist im Sanitärbereich geschieht, ist keinem peinlich, denn Kauf, Besitz und Konsum kleiner Mengen sind in Portugal seit 2001 entkriminalisiert.

Ordnungswidrigkeit statt Stigmatisierung

Es ist quasi eine Ordnungswidrigkeit. Kein Aktenvermerk zementiert eine Stigmatisierung vor Arbeitgebern oder der Gesellschaft. Wer laut Gesetz Konsument oder Dealer ist, bemisst sich an dem, was ein hypothetischer Gewohnheitskonsument für "zehn Tage" benötigt: seien es Cannabisblüten (25 Gramm), Haschisch (fünf Gramm), Amphetamine (ein Gramm), oder 500 Mikrogramm bei LSD. Selbst der besitz von Kokain, Heroin oder Morphium ist erst ab dem Überschreiten von Grenzmengen strafbar.

Prävention, Behandlung und soziale Inklusion

"Der Konsument ist kein Krimineller. Er gehört nicht ins Gefängnis", sagt der portugiesische Suchtmediziner João Goulão über den "Staatlichen Plan gegen die Drogenabhängigkeit", den er mitentwickelt hat. "Was zählt ist Prävention, Behandlung und soziale Inklusion", sagt Goulão, der Präsident der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht (EBDD) ist.

Die Unkenrufe von vor zwölf Jahren, die Massenimport und Drogentourismus prophezeiten, sind zwar nicht verstummt. Eingetreten ist das Worst-Case-Szenario aber nicht. Statistiken belegen einen deutlichen Rückgang junger Neokonsumenten, während der Anteil bei den Erwachsenen leicht angestiegen ist.

Drogen-Boom in den 80ern

Seine Wurzeln hat das "weltweit größte Experiment in Sachen Suchtmittelpolitik" (Suchtmediziner Goulão) am Ende der Salazar-Militärdiktatur anno 1974. Wie in Spanien nach dem Tod Francos 1975 setzte mit der demokratischen Wende ein Heroin-Boom ein. Die Folge der neu gewonnenen Freiheit war, dass Portugal ab Mitte der 1980er-Jahre die europaweit höchste HIV-Infektionsrate unter Drogensüchtigen aufwies. Mehr als 100.000 "schwere Konsumenten" soll es damals gegeben haben.

Kein "laissez-faire"

In Portugal herrscht wohlgemerkt kein "laissez-faire". Der Entkriminalisierung zum Trotz sind die Substanzen an sich verboten. Wer ertappt wird, wird vor eine Expertenkommission geladen, die "Comissões para a Dissuasão da Toxicodependência" (CDT). Binnen 72 Stunden hat man vor einem Psychologen, einem Sozialarbeiter und einem Juristen zu erscheinen - ohne Zwang. Wer nicht kommt, der wird erinnert. Die Kommissionen wissen, wie das Suchtverhalten ausgeprägt ist, und sollen ihren Klienten Wege aus der Abhängigkeit aufzuzeigen.

Wird ein Drogenfahnder zum zweiten Mal fündig, drohen strafrechtliche Konsequenzen. Ermittlern bleibt dennoch weit mehr Zeit, Straßen-, Zwischen- und Großhändler zu verfolgen, die am iberischen Einfuhrtor zu Europas Massenmarkt agieren. Auch hier mit steigendem Erfolg. Erst am Mittwoch wurden wieder 1,8 Tonnen Kokain vor Portugals Küste beschlagnahmt. (Jan Marot aus Lissabon, DER STANDARD, 22.3.2013)