Vereinzelte Menschen, die leere, gespenstisch wirkende Plätze durchqueren. Nebel, der den Fluss und das flache Land ebenso überzieht, wie er sich in den Gassen der Stadt einnistet. Es sind Bilder wie diese, die zu den markantesten in den von Anfang an von einem hohen Stilwillen gekennzeichneten Filmen des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni gehören.

Dass der Blick des 2007 verstorbenen Filminnovators von Kunstwerken wie den metaphysischen Bildern Giorgio de Chiricos und Giorgio Morandis ebenso inspiriert wurde wie von der Atmosphäre seiner Heimatstadt Ferrara und der sie umgebenden Po-Ebene, legt die Ausstellung "Lo sguardo di Michelangelo. Antonioni e le arti" nahe. In neun teils chronologisch, teils thematisch geordneten Abschnitten spürt die Schau im Ferrareser Palazzo dei Diamanti mit Begriffen wie "Nebel", Wüsten", "Realität", "Farben der Welt und der Gefühle", "Anderswo" und "Verschwunden" den Wechselwirkungen, Beeinflussungen und Parallelen zwischen Antonionis (nicht nur filmischem) Werk und anderen Künsten nach. 

Nachlass des Regisseurs

Ausstellungskurator Dominique Païni, von 1993 bis 2000 Direktor der Cinémathèque Française, konnte sich bei seiner Arbeit auf den Nachlass Antonionis stützen, der sich heute im Besitz der Stadt Ferrara befindet und von Briefen, Büchern, Filmen und Schallplatten bis zu Skizzen, Kunstwerken und persönlichen Gegenständen reicht. Païni hat seine Auswahl an Artefakten klug in Beziehung mit Leihgaben von Werken von Künstlern wie Jackson Pollock und Mark Rothko gesetzt, ohne vordergründige Kausalitäten zu konstruieren. In den vielstimmigen Diskurs fügen sich auch Installationen wie Alain Fleischers Hommage an die dunkle Schönheit Lucia Bosé, Antonionis bevorzugte Schauspielerin in seinen frühen Filmen, ein.

Nicht nur die Ausstellung, sondern auch die Stadt Ferrara selbst, in der Antonioni am 29. September 1912 geboren wurde, lädt indessen zur Spurensuche nach dem Meisterregisseur ein. Zwar hat der Filmemacher nur zwei Werke in seiner Heimatstadt gedreht, seinen ersten Spielfilm "Cronaca di un amore/Chronik einer Liebe" (1950) und seinen letzten, mit Wim Wenders realisierten Langfilm "Al di là delle nuvole/Jenseits der Wolken" (1995). Im auch als Fahrradstadt bekannten Ferrara befinden sich aber nach wie vor jenes Haus, in dem Antonioni aufwuchs, und das Grab des in Rom verstorbenen Regisseurs.

Die Ausstellung ist bis 9. Juni in dem für seine markante Außenfassade bekannten Frührenaissancebau Palazzo dei Diamanti zu sehen, der seinerseits in einem Film Antonionis auftauchen sollte (davon mehr in der Ansichtssache). Ihren beziehungsreichen Titel "Der Blick des Michelangelo" teilt die Ausstellung mit einem anderen Spätwerk des Regisseurs, in dem der Filmemacher seinerseits einem berühmten Künstler und Namenskollegen nachspürte: Michelangelo Buonarroti.

Entlang des Po-Flusses in der Umgebung seiner Heimatstadt Ferrara entsteht 1943 Michelangelo Antonionis erster eigener Film "Gente del Po". Zeitgleich ist auch ein anderer italienischer Regisseur, Luchino Visconti, in der Gegend unterwegs, um sein neorealistisches Meisterwerk "Ossessione" zu drehen.

Foto: Karl Gedlicka

Antonionis Dokumentarfilm über das Leben am Fluss wird erst vier Jahre später veröffentlicht. 1957 kehrt der Regisseur an die Ufer des Po zurück und dreht in der nebelverhangenen Landschaft "Il Grido/Der Schrei" über die fatale Odyssee eines Fabriksarbeiters inmitten einer abweisenden Umgebung (im Bild). "Nebel" lautet der Titel des ersten Ausstellungsabschnitts von "Lo sguardo di Michelangelo".

Foto: Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Zwar dreht Antonioni nur zwei Filme, "Cronaca di un amore/Chronik der Liebe" und "Al di là delle nuvole/Jenseits der Wolken" in Ferrara selbst. "Lange und breite Straßen, Städte der Ebene, schöne und ruhige Eleganz als Einladungen zum Nichtstun", wie der Regisseur den Reiz der Po-Ebene beschreibt, bleiben aber auch für Filme wie "Il deserto rosso/Die rote Wüste" (1964) und "Identificazione di una donna/Identifikation einer Frau" (1983) ein reichhaltiger Bilderpool. (Im Bild die Allee auf dem Stadtwall von Ferrara)

Foto: Karl Gedlicka

In die langen Straßen Ferraras als Drehort kehrt Antonioni erst 1995 mit seinem letzten Langfilmprojekt "Al di là delle nuvole/Jenseits der Wolken" zurück, einer Verfilmung einiger seiner unter dem Titel "Bowling am Tiber" veröffentlichten Kurzgeschichten. Als Co-Regisseur steht Antonioni, der 1985 einen Schlaganfall erlitten hat und sich nur mühevoll verständlich machen kann, Wim Wenders zur Seite. In einer Episode des Films ist John Malkovich vor dem Palazzo dei Diamanti (rechts im Hintergrund) zu sehen, der die aktuelle Antonioni-Ausstellung bis 9. Juni beheimatet.

Foto: Karl Gedlicka

Ferrara ist nicht nur die Stadt, in der Michelangelo Antonioni seine frühen Jahre verbrachte. Auch der von ihm hoch geschätzte Maler Giorgio de Chirico, seines Zeichens Hauptvertreter der Pittura metafisica, lebte mehrere Jahre in Ferrara, wo er sich auf Stadtbilder konzentrierte. In der Antonioni-Ausstellung zu sehen ist De Chiricos "Piazza d'Italia con fontana (I piaceri del poeta)".

Foto: SIAE 2013

Visuelle Parallelen zu den Bildern De Chiricos lassen sich etwa in Antonionis "L'avventura" (1960; im Bild) und jenen berühmt gewordenen Sequenzen von "L'eclisse" (1962) finden, die im römischen, zur Zeit des Faschismus auf dem Reißbrett geplanten Stadtbezirk EUR gedreht wurden. Der Filmtrilogie von der "Krankheit der Gefühle", zu der neben diesen beiden Filmen auch "La Notte" (1961) gehört, widmet die Ausstellung einen "Verschwunden" betitelten Abschnitt, der gleichermaßen auf den Verlust von Emotionen und der Fähigkeit zu kommunizieren wie auf das Verschwinden einer Frau anspielt.

Foto: Karl Gedlicka

Antonionis bevorzugte Schauspielerin jener Jahre, Monica Vitti, wird in der Ausstellung unter anderem mit raren Probeaufnahmen gewürdigt.

Foto:

Lucia Bosè, die in Antonionis erstem Spielfilm "Cronaca di un amore/Chronik einer Liebe" (1950; im Bild) und in "La signora senza camelie/Die große Rolle" (1953), die Hauptrollen spielte, wird mit einer Installation von Alain Fleischer Reverenz erwiesen. Die heute 82-jährige Schauspielerin besuchte die Ausstellung am Eröffnungswochenende auch selbst.

Foto: Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Unter den vielen Originaldokumenten, die in der Ausstellung zu sehen sind, finden sich unter anderem Briefe an Antonioni von Federico Fellini, Roland Barthes und Italo Calvino. In einem mit 21. März 1961 datierten Brief sagt der französische Filmstar Alain Delon seine Mitwirkung an "L'eclisse" wegen eines Rollenangebots für David Leans "Lawrence von Arabien" ab.

Foto: Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Die für Delon in "Lawrence von Arabien" vorgesehene Rolle ging schließlich an Omar Sharif, der Franzose war 1962 doch noch an der Seite von Monica Vitti in "L'eclisse" zu sehen.

Foto: Sergio Strizzi/Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Monica Vitti spielte auch die weibliche Hauptrolle in Antonionis erstem Farbfilm "Il deserto rosso/Die rote Wüste" (1964), dem das Ausstellungskapitel "Die Farben der Welt der Gefühle" gewidmet ist. Für seinen in der hoch industrialisierten Winterlandschaft von Ravenna angesiedelten Film bediente sich der Regisseur einer expressiven Farbdramaturgie, die mit der Entfremdung der Hauptfigur korreliert. Kurator Dominique Païni lässt Filmbilder in Nachbarschaft zu Alberto Burris 1961 entstandenem Bild "Rosso Plastica" auf die Besucher wirken.

Foto: Karl Gedlicka

Vor einem Beispiel für eine umgekehrte Beeinflussung sind hier Kurator Païni und die Direktorin des Palazzo dei Diamanti, Maria Luisa Pacelli, zu sehen: Mario Schifanos Bild "Tutti morti" (1970) wurde von der berühmten Szene in Antonionis "Zabriskie Point" (1970) inspiriert, in der sich unzählige Menschen in der Wüste des US-amerikanischen Death Valley lieben. Der "Wüste" ist der zweite Abschnitt der Ausstellung gewidmet, der damit ein für Antonioni wichtiges Raumkonzept umreißt, wie es neben "Zabriskie Point" auch im Meisterwerk von 1975, "Professione: Reporter", zu finden ist.

Foto: Karl Gedlicka

Als interessantes Zeitdokument über die Filmgeschichte hinaus erweist sich ein Brief, den Kathleen Cleaver von der Black Panther Party an Antonioni geschrieben hat. Cleaver wirkte in "Zabriskie Point" auch selbst in einer halbdokumentarischen Szene von einem Studentreffen mit.

Foto: Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Viel Raum wird Antonionis größtem kommerziellen Erfolg eingeräumt, dem im Swinging London der Sixties entstandenen Film "Blow Up", in dem David Hemmings als Fotograf mittels Vergrößerungen eines Bilddetails - letztlich vergeblich - einem möglichen Mord nachzuspüren versucht. Ein im Garten des Palazzo dei Diamanti eigens aufgebauter Tennisplatz spielt sowohl auf die berühmte Schlussszene von "Blow Up", eine Tennispantomime, als auch auf den Sport an, den Antonioni als Sohn wohlhabender Eltern in Ferrara ausübte.

Foto: Karl Gedlicka

Auf der Vergrößerung kleinformatiger Malereien basiert auch der Großteil Antonionis eigener Bilder, in denen Berge als Motiv vorherrschen. Der Ausstellungsraum "Le montagne incantate" (im Bild Motiv "n. 58") führt die nur wenige Zentimeter großen, in Mischtechnik entstandenen Originale mit ihren eine völlig andere Bildwirkung erzielenden "Blow-ups" zusammen. Die Gemälde des Regisseurs waren bereits einmal integraler Gegenstand eines neben dem Palazzo dei Diamanti befindlichen Antonioni-Museums, das aber aus Geldgründen geschlossen werden musste.

Foto: Gallerie d’Arte Moderna e Contemporanea, Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

"Anderswo" nennt sich jener Abschnitt der Ausstellung, der Antionionis Rückkehr zum Dokumentarfilm mit Werken wie "Chung Kuo, Cina" gewidmet ist, das auf Einladung der RAI und der chinesischen Regierung entstand. "Identifikation eines Meisters" ist das letzte Kapitel der Ausstellung überschrieben. Es beschäftigt sich mit dem Spätwerk des Regisseurs (hier bei den Dreharbeiten zu "Zabriskie Point"), der 1983 Kurzgeschichten unter dem Titel "Quel bowling sul Tevere" veröffentlichte und auch nach seinem Schlaganfall 1985 aktiv blieb.

Foto: Museo Michelangelo Antonioni, Ferrara

Wer sich außerhalb der Ausstellung in Ferrara auf die Spurensuche nach Michelangelo Antonioni machen will, erreicht unweit der Stadtmauer am besten mit dem Fahrrad in der Via San Maurelio 10 leicht jenes Haus, in dem Antonioni in den Jahren 1918 bis 1929 wohnte. 

Foto: Karl Gedlicka

Auch die letzte Ruhestätte des am 30. Juli 2007 in Rom verstorbenen Regisseurs befindet sich in Ferrara.

Foto: Karl Gedlicka

Vergleichsweise unauffällig, aber für einen Chronisten der Transformation moderner Lebenswelten durchaus passend ist jener Platz, der ursprünglich gar keinen Namen trug, nun aber aber "Largo Michelangelo Antonioni" heißt und vor allem einen Parkplatz beherbergt.

Foto: Karl Gedlicka

Ebenfalls nach wie vor in Ferrara zu finden ist übrigens das Haus, in dem ein bekannter Freund Antonionis, der Schriftsteller Giorgio Bassani (1916-2000), seinerseits Kindheit und Jugend verbrachte. Der bekannteste Roman des Autors, "Il giardino dei Finzi-Contini/Die Gärten der Finzi-Contini", wurde 1970 von Vittorio De Sica verfilmt, Bassani konnte der Filmversion erklärtermaßen nur wenig abgewinnen. (Karl Gedlicka, derStandard.at, 24.4.2013)

Foto: Karl Gedlicka