Was einem früher gar nicht erst ins Haus gekommen wäre, gehört in immer mehr Stuben zum trendigen Schein, auch auf dem Boden, wie dieser Teppich aus der Kollektion von Jan Kath zeigt.

Foto: Jan Kath

Verdiente man bislang eher Geld damit, Kratzer und Dellen auszubessern, kassiert so mancher mittlerweile dafür, Dinge aussehen zu lassen, als hätte der Zahn der Zeit schon eifrig an diesen genagt. Shabby Chic nennt sich zweiteres und findet seinen Ursprung unter anderem in der "Do it yourself"-Bewegung hat.

Brandneue Einrichtungsgegenstände machen auf betagt und erzählen Geschichten, die sie nie erlebt haben. Wer seinem Mobiliar mit Hammer und Hobel selbst Löcher und Schrammen zufügen möchte, findet treffsichere Anregungen dafür im Internet.

Darüber hinaus gibt es ein wachsendes Angebot von Alltagsobjekten, die schon beim Kauf nach jahrzehntelangem Gebrauch aussehen. Bisher wurden Kommoden, Tische und Stühle mit gewollten Mängeln von Firmen hergestellt, die sich auf die Fabrikation scheinbar abgenutzter Wohnutensilien im Landhausstil spezialisiert haben. Nun entdecken auch Designunternehmen den Charme der Unregelmäßigkeit für sich und heben ihn zugleich eine Ebene empor: Wertvolle Materialen und eine ausgezeichnete Gestaltung spielen mit dem Used Look.

Neu, aber mit Ecken und Kanten

Oder man verzichtet einfach auf einen Veredelungsschritt bei der Oberflächenbearbeitung. Solche Wohnobjekte werden weder mit künstlichen Kratzern versehen, noch mit Farbklecksen auf alt getrimmt. Sie sind auch nicht in Würde gealtert. Vielmehr bilden die von Designerhand geschaffenen Shabby-Chic-Möbel eine kreative Projektionsfläche - sie täuschen das Angeschrammte nur vor.

Ihre Oberflächen sind makellos, die Abnutzung ist reine Illusion. Man kann sie als Augenzwinkern der Hersteller verstehen, die den in der Fertigung üblichen Perfektionismus hier mit Humor betrachten, ohne sich von ihm abzuwenden. Im Gegensatz zu Reeditionen, bei denen klassische Entwürfe lupenrein aufgelegt werden, zelebriert der gehobene Gammellook das Unvollkommene durch erlesene Qualität.

Vor allem Teppiche haben den Boden für den neuen Trend zur künstlichen Patina geebnet. Jan Kath hat sich in den vergangenen Jahren zu einer starken Marke mit Showrooms von Berlin bis New York entwickelt. "Während die Kunden früher Teppiche verlangten, die mit ihren Ornamenten für eine bestimmte Region oder einen Volksstamm standen, tritt heute der Designer mit seinen Ideen in den Vordergrund", erklärt Kath. "Erased Classics" heißt seine bekannteste Kollektion mit Motiven aus italienischen Wandbespannungen und indischen Saris. An einigen Stellen scheinen die Muster wie wegradiert oder mit Säure übergossen.

Von Philippe Starck bis zu den Bouroullec

Auch der italienische Hersteller Moroso hat den Reiz des gepflegten Shabby Chic früh erkannt. In Kooperation mit der Modemarke Diesel brachte das Unternehmen schon vor längerem den wegweisenden Sessel "Cloudscape" auf den Markt. Der erstklassige Leinenstoff dieser abgewetzt wirkenden Sitzmöbel täuscht eine Nutzung aus zweiter Hand vor. Das neueste Produkt beider Kreativteams ist "Piston", ein mit Polyurethanschaum gefüllter Keramiktisch.

Sein grobes Äußeres aus Beton erinnert mehr an eine künstlerische Skulptur als an ein Wohnmöbel. Der Designer Enrico Franzolini hat ein ebenso aktuelles Objekt für Moroso entworfen. Sein asymmetrisch geschnittener Sessel "Tia Maria" besteht aus einem fein verchromten Stahlrohrgestell mit einer tragenden Lederpolsterung, die aussieht, als hätte sie schon bessere Tage gesehen. Deren ausgebeulte, aber hochwertige Naturlederfläche soll zu einem besonders abwechslungsreichen Sitz- und Liegekomfort beitragen.

Unregelmäßig gewebte Textilelemente verwenden Ronan und Erwan Bouroullec bei ihrem Regalsystem "Folio" für das Londoner Label Established & Sons. Die Rechtecke aus Wollfilz gleichen kleinen Jacquardteppichen, die sich auf einer Aluminiumschiene spielerisch hin und her bewegen lassen. Dahinter kann man einiges verbergen, doch ist die Front nie ganz verdeckt. Ebenfalls bei Established & Sons erscheinen die ironisch gestalteten Kommoden der Briten Richard Woods und Sebastian Wrong. Unter dem Namen "Wrongwoods" bringen sie farbige Kleinmöbel heraus, auf die schwarze Holzstrukturen im Comicstil aufgedruckt sind.

"Raw" als neues Fashion Statement

Auch der "Prater Chair", den Marco Dessi für die Stuttgarter Möbelfirma Richard Lampert gestaltet hat, ist aus Holz gemacht. Als Material wählte Dessi ein mit schwarzem Harzleim verpresstes Birkensperrholz. Die Leimung zwischen den einzelnen Holzschichten nutzt der Designer als Stilmittel, das dem Chair seinen originellen Charakter gibt.

Der neueste Stuhl von Philippe Starck präsentiert sich roh und umweltfreundlich. "Zartan raw" ist in Zusammenarbeit mit Eugeni Quitllet und der italienischen Designmarke Magis entstanden. Für den Stapelstuhl verwendet Starck recyceltes Polypropylen, das er mit Holzfasern verstärkt. In dieser Version wird auf die letzte Oberflächenbehandlung verzichtet. Das verleiht dem Sitz eine bewusst ungeschliffene Erscheinung.

Ähnlich sieht es mit dem Fußbodenbelag "Raw Diamond" der "Re/cover green"-Kollektion von Vorwerk aus. Die elastischen Designbeläge aus Biopolyurethan wirken im Raum wie unregelmäßig oxidierte Metalloberflächen. Erst auf den zweiten Blick wird deutlich, dass es sich um ein präzise gedrucktes Dekor handelt. Und selbst erlesene Designerküchen machen vor dem beliebten Used Look nicht Halt: "Aura" von Minotticucine erscheint von außen als massiver Kupferblock mit wolkigen Verfärbungen statt blank polierten Fronten. (Andrea Eschbach, Rondo, DER STANDARD, 22.3.2013)