Kaum ein Land zählt so viele Gedenktage und Denkmäler und zelebriert sie so ernsthaft wie "La République Française". Manchmal dauert es, bis sie sich auch an unangenehmere Zeiten erinnert. Anders als das Ende der beiden Weltkriege "vergaß" Frankreich lange Zeit den Waffenstillstand von Evian, der am 19. März 1962 den Algerienkrieg (schätzungsweise mehr als 300.000 Tote) besiegelte.

Erst der sozialistische Premier Lionel Jospin wollte diese Gedächtnislücke 2002 füllen; es verging aber noch einmal ein Jahrzehnt, bis das Parlament endlich den Segen gab für die Einrichtung eines " nationalen Tages des Erinnerns und der Einkehr für das Gedenken der zivilen und militärischen Opfer des Krieges in Algerien und der Kämpfe in Tunesien und Marokko".

So lange auch die Bezeichnung ist - bis heute überzeugt sie längst nicht alle Franzosen. Und schon gar nicht die Hauptbeteiligten: Die 1,5 Millionen Algerienheimkehrer der 1960er-Jahre, die sogenannten Pieds-noirs (Schwarzfüße), kehrten den am Dienstag erstmals organisierten Feierlichkeiten demonstrativ den Rücken.

In Nizza weigerte sich Bürgermeister Christian Estrosi schlicht, die Stadt wie vorgeschrieben zu beflaggen. "Ich sage es mit aller Kraft, ich beuge mich diesen Vorschriften nicht", deklamierte der sonst eher gemäßigte Vertreter der bürgerlichen Union für eine Volksbewegung (UMP). In Perpignan an der Grenze zu Spanien setzte Bürgermeister Jean-Marc Pujol, selbst ein Pied-noir, die Nationalflagge vor dem Rathaus auf Halbmast. Den Affront begründete er mit der alten Résistance-Losung: " Gehorchen heißt verraten."

Die Pieds-noirs - die laut einer aktuellen Erfassung 3,2 Millionen Angehörige und Hinterbliebene zählen - schmerzt noch heute der Verlust der "Algérie Française". Der Waffenstillstand von Evian ist für sie eine Schmach, da sich die ehemalige Kolonialmacht danach aus ihrer wichtigsten Überseebesitzung zurückziehen musste. "Erstmals in seiner Geschichte begeht Frankreich einen Waffenstillstand, der von seinen Gegnern als Sieg gefeiert wird", meinte der UMP-Abgeordnete Lionnel Luca. Der Vorsteher des Kriegsveteranen-Verbandes FNACA, Guy Darmanin, Offizier im Algerienkrieg, wandte sich dagegen klar gegen die Boykottaufrufe: "Wenn man Republikaner ist, unterwirft man sich dem Gesetz und damit auch einem Gedenktag, der von einem demokratisch gewählten Parlament beschlossen wurde." (Stefan Brändle, DER STANDARD, 20.3.2013)