Rund zehn Jahre nach der Ermordung des serbischen Ministerpräsidenten Zoran Djindjic erinnert das tragische Schicksal dieses hochbegabten Mannes an den denkwürdigen Ausspruch des griechischen Philosophen Theophrast, der, 85 Jahre alt geworden, noch auf seinem Sterbebett die Knappheit der Lebenszeit beklagt haben soll: "Kaum hat man zu leben begonnen, da muss man schon sterben." Der mutigste und zugleich ungewöhnlichste serbische Politiker im 20./21. Jahrhundert, der erste demokratisch gewählte Ministerpräsident Serbiens nach dem Sturz von Slobodan Milosevic im Oktober 2000, wurde mit knapp 50 Jahren bei einem bis heute nicht ganz geklärten Anschlag am 12. März 2003 in Belgrad ermordet.

Die Hoffnungen auf einen Neuanfang in Serbien haben sich in dem Jahrzehnt nach dem Mordanschlag leider nicht erfüllt. Der einstige Kompagnon im Kampf gegen Milosevic, der spätere Präsident Vojislav Kos tunica, entpuppte sich als ein zwielichtiger Nationalist. Der pro-europäische, liberale Hoffnungsträger Boris Tadic erwies sich als unfähig (oder unwillig), mit den Mafiosonetzwerken und der wuchernden Korruption abzurechnen. Der neuerliche Aufstieg der radikalen und " gemäßigten" Nationalisten, der einstigen prominenten Handlanger von Milos evic, heute in der Rolle des Staatspräsidenten und des Regierungschefs, bietet kaum echte Chancen für die Bekämpfung der organisierten Kriminalität oder für einen wirklichen Tabubruch bezüglich des Verhältnisses zu Kosovo.

Djindjic schrieb zweimal Geschichte

Im Gegensatz zu dem zuerst zaudernden und später arroganten Präsidenten Tadic hat Djindjic zweimal serbische und zugleich europäische Geschichte geschrieben: im Herbst 2000, als er den Sturz von Milosevic kaltblütig und brillant vorbereitet durchgeführt hatte. In einem mehrstündigen Gespräch schilderte er mir später in einem Wiener Kaffeehaus alle schillernden Einzelheiten des Coups. (Nachzulesen in der Europäischen Rundschau 2001/4: "Anatomie einer Revolution"). Der zweite bedeutende Durchbruch war die Auslieferung von Milosevic im Sommer 2001 an das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag.

Djindjic, der einst in Tübingen Philosophie studiert hatte, galt für mich und für viele Freunde Serbiens als der serbische Europäer schlechthin, der überzeugende Verfechter der überfälligen Modernisierung seines Landes. Die radikalen Nationalisten hassten ihn, und er wurde außerdem für die Mafiaclans zunehmend unbequem. Mit Djindjic hatte nicht nur Serbien, sondern ganz Europa eine Hoffnung verloren.

Die Entwicklung der vergangenen Jahre nicht nur in Serbien bestätigt den während der Jugoslawienkriege verfassten Leitsatz von Elias Canetti über " die Misere, die sich in Mythos verkleidet". Die Führung der von Djindjic gegründeten Demokratischen Partei hat das von ihm erworbene politische und moralische Kapital fast gänzlich verspielt. Ob nun die angeblich gewandelten und an die Macht gelangten Milosevic-Gehilfen einen vernünftigen und gemäßigten Kurs einschlagen werden, kann heute niemand voraussagen. Man hat allerdings verblüffende Rollenwechsel auch in anderen postkommunistischen Staaten Ost- und Südosteuropas erlebt. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 19.3.2013)