Andrew Quigley ist ein zufriedener Mann. Nur an die sechs Monate, die der Taxifahrer in Dublin arbeitete, denkt er nicht gern zurück. Kreuzunglücklich sei er gewesen, erzählt der Familienvater. "Zu eng, zu viele Menschen. Alle rennen aneinander vorbei. Keiner hat gegrüßt", erinnert er sich. Ganz anders in seiner Heimat Valentia, einer von rund 50 bewohnten Inseln vor der Küste Irlands.
"Hier kennt mich jeder", erzählt der Vater von vier Kindern. Im Vergleich zur Großstadt sei das Leben "easy going". Wenn Andrew Touristen mit seinem Kleinbus chauffiert, winkt er jedem in den entgegenkommenden Fahrzeugen zu. Kein Wunder, Valentia, das zu den größten Inseln vor Irlands Küste zählt, hat nur rund 650 Einwohner. "Wir fühlen uns anders als die Iren auf dem Festland", sagt Andrew. Das ist gerade einmal 400 Meter entfernt und bequem über eine Autobrücke zu erreichen. "Bei uns heißt es: Valentia ist das Festland und Irland eine vorgelagerte Insel", witzelt er. Dass er eine Frau heiratete, die nicht von dieser Insel stammt, das konnten viele seiner Mitbürger nicht verstehen.
Inseldasein vor der Insel
Recht augenscheinlich wird das Kokettieren mit einer Andersartigkeit der Insulaner vor der Insel aber an einem ganz bestimmten Tag: dem Saint Patrick's Day. Während Dublin jedes Jahr am 17. März in einem Meer aus Kleeblatt-Paraden badet und der Tag des irischen Nationalheiligen als profane Shamrock-Party die Pubs von Meidling bis Melbourne erfasst hat, scheint man sich auf den Inselchen kaum dafür zu interessieren. Wie ein übertrieben freundliches Zugeständnis an die Zugereisten wirkt da ein einsam platziertes "St. Patrick's Day"-Schild vor der Tür des Dwelling House Pubs auf Valentia.
Ohne den Zuzug von außerhalb würden die kleineren Inseln allerdings längst verwaisen. Davon ist Dan Reilley überzeugt, der auf Sherkin, einem südirischen Eiland mit nur 104 Einwohnern, wohnt. Vor der großen Hungersnot Mitte des 19. Jahrhunderts waren es mehr als zehnmal so viel.
Hungern muss hier heute freilich niemand mehr, die Verdienstmöglichkeiten sind jedoch begrenzt. Und so zieht es vor allem junge Bewohner in die Städte auf dem Festland. Für andere ist das geruhsame Leben auf einer der Inseln aber ein langgehegter Traum. Blow-ins, die Hereingeschneiten, nennt man die Zugezogenen. Auf der knapp fünf Kilometer langen Insel Sherkin haben sich in den vergangenen Jahren Menschen aus Australien und Kanada angesiedelt. Darunter sind Maler, Bildhauer, Buchautoren und Musiker, die sich von der entspannten Atmosphäre und der kargen Schönheit der Insel inspirieren lassen.
Einige Kilometer entfernt liegt die Insel Heir, wo ganzjährig gerade einmal 29 Menschen leben. Einer von ihnen ist der 76-jährige Fischer John D'Harte. Sein ganzes Leben hat er auf der knapp vier Quadratkilometer großen Insel verbracht, die früher noch 400 Einwohner zählte. Außer dem Fischer stammen nur noch fünf Bewohner von dem Eiland. Die restlichen 23 sind hinzugezogen wie der Gourmet-Koch John Desmond, der früher in dem berühmten Pariser Hotel Ritz arbeitete. Seit nunmehr 25 Jahren betreibt er auf Heir ein Feinschmeckerrestaurant und eine Kochschule. "Das war die beste Entscheidung meines Lebens", meint er.
Die Qualität der Küche hat sich in Irland herumgesprochen. Seine Art zu kochen beschreibt er so: "Frisch, ohne Kinkerlitzchen." Gegessen wird, was auf den Tisch kommt, denn er serviert nur ein Menü. Dass es auf Heir keinen Pub gibt, findet er gut. "Pubs verändern eine Insel", sagt er.
Irlands südlichster Pub liegt 14 Kilometer vom Festland entfernt auf der sturmumtosten Insel Cape Clear. Früher ging es hier oft recht turbulent zu. "Es gab Schlägereien zwischen angetrunkenen Fischern", erzählt die Wirtin Mary O'Driscoll. Doch diese wilden Zeiten sind lang vorbei auf der heute 120 Einwohner zählenden Insel. Selbst zum Saint Patrick's Day kann man den Schaum auf dem Stout im Pub knistern hören.
Die Ruhe um den Heiligen Patrick hat auf Cape Clear aber noch einen anderen Grund: Gefeiert wird hier - wenn auch nicht wirklich ausgelassen - schon zwölf Tage früher. Der 5. März gilt als Geburtstag des Heiligen Kieran. Und dieser Ciarán von Saigir stammt immerhin von der Insel. Nach der Überlieferung der Einheimischen lebte und wirkte er sogar etwas früher als der Heilige Patrick.
In der Schule von Cape Clear werden heute sieben Kinder von vier Lehrern unterrichtet. "Für Kinder ist die Insel ein fantastischer Ort. Sie können einfach in der Natur herumrennen, und man muss sich keine Sorgen machen - ein echtes Paradies", schwärmt die Wirtin. Das finden wohl auch die Gäste, die zum Wandern, Walbeobachten oder Wracktauchen herkommen. Im Juni versammeln sich dann die Angehörigen des weitverstreuten Clans der O'Driscolls auf der Insel, und im September läuft das internationale Festival der Geschichtenerzähler.
Neues Kap der Guten Hoffnung
Manche Besucher bleiben für immer wie die Südafrikanerin Marianne Ross. "Ich habe mich erst in die Insel und dann in einen ihrer Bewohner verliebt", erzählt sie. Doch manchmal bekommt sie den Inselkoller. "Dann muss ich rüber aufs Festland." Bloß bei Seegang lässt die Fähre manchmal tagelang auf sich warten, die heftigen Stürme und die tückischen Strömungen vor Cape Clear sind unter Seeleuten verschrien.
Auf den meisten der einstmals rund 200 bewohnten Inseln vor Irland leben heute keine Menschen mehr. Aufgegeben wurde im Jahr 1953 auch der häufig von Stürmen heimgesuchte Archipel der Blaskets, heute nur mehr ein beliebtes Ziel von Tagestouristen. Für die einstigen Bewohner war es damals ein schwerer Schritt, die Heimat zu verlassen. Geblieben sind die Erinnerungen an ein hartes und selbstbestimmtes Leben. Und einige legendäre Geschichten darüber: Von Clare Island behauptet man etwa, dass das Leben dort schon immer so beschaulich war, dass selbst der Heilige Patrick extra zum Fasten herüberkam.
Andere Erzählungen stammen von Inselbewohnern, die nicht nur ein enthaltsames Leben führten, sondern auch darüber schrieben. Einer von ihnen, der Fischer Tomás Ò Criomhthain, wurde mit seinem poetischen Buch Die Boote fahren nicht mehr aus über die Grenzen Irlands hinaus bekannt. Im letzten Kapitel schrieb der Bewohner der Blasket Islands schon in den 1920er-Jahren: "Menschen wie uns wird es nie mehr geben." (Ulrich Willenberg, DER STANDARD, Album, 16.3.2013)