Nächtens in Kabul, auf dem Weg in die Gandamak Lodge: "Keine Fotos!", das war die strikte Anweisung der bewaffneten Wachen gewesen. Ein paar schnelle Handybilder sind es dann doch geworden.

Foto: STANDARD/Prantner

Es ist Freitagabend, und langsam kriecht Dunkelheit in die Stadt. Der Tag hatte es in sich. Wir rochen an den Mündungen unzähliger Sturmgewehre. Pausenlos untersuchten Vermummte den Unterboden unseres Wagens auf versteckte Sprengsätze. Stacheldrahtverhaue, Betonwälle, Sperranlagen waren zu passieren, endlose Briefings und ein Abendessen mit freudloser Fruchtsaftbegleitung durchzustehen. Ein paar Drinks und ein paar Zigaretten, verdammt, konnte das jetzt tatsächlich zu viel verlangt sein?

Der Tipp kommt von einem Diplomaten, der Portier im Hotel Serena schreibt die Koordinaten auf einen Waschzettel: "Gandamak Lodge. Adress: Shir Poor Square next to UNHCR across Iranian Embassy." Der Taxifahrer prügelt den weißen Toyota durch Kabul. An den Kontrollpunkten der afghanischen Armee glosen Zigaretten auf. In einer unbeleuchteten Straße bremst der Wagen scharf: "Here", flüstert der Fahrer. Ein rostiges Eisentor, Bewaffnete öffnen. Unter einer flackernden Glühbirne tasten uns die Männer auf Waffen und Sprengstoff ab. Schießeisen und Pässe sind abzugeben. Und: "No pictures! Understand? You understand?!"

Ja ja, verstanden. Kein Grund, nervös zu werden. Quietschend öffnet sich eine zweite Schleuse, dann dürfen wir über den Hof und endlich hinein in den muffigen, feuchten Pub im Souterrain. Hinein in die "Talibar", von der es keine Fotos geben darf, obwohl sich hier doch das beste Bild von Verzweiflung und Elend der sogenannten internationalen Gemeinschaft in Afghanistan finden lässt. Hier, und nur hier, sagen Militärs, Diplomaten und NGO-Leute das, was sie tatsächlich denken, und nicht das, was die Welt hören soll.

In einer Ecke lehnen zwei bis dicht unter den Scheitel abgefüllte Deutsche, die dicke Becks-Tränen über die Höhe des Bierpreises vergießen. "Die kaufen das bei der Bundeswehr um weniger als einen Dollar pro Dose ein und verkaufen es hier um zehn, Frechheit!" An der Partykeller-Budel grüßen die 70er-Jahre und zwei riesige, bärtige Amerikaner in Tarnfarben. Sie beklagen sich nicht. Sie trinken. Whiskey-Cola, den ihnen eine umtriebige Blondine bestellt. Aus den Boxen krächzt Cyndi Lauper: "Oh, girls, they wanna have fu-un ..."

"Hey, und wobei haben Girls hier denn untertags Spaß?"

"Kommt immer darauf an, wer fragt", anwortet sie. "Ein Journalist? Na, dann sagen wir, dass ich die afghanische Regierung berate."

"Das ist ein weites Feld."

"Darauf kannst du wetten."

Berater, das ist auch die Berufsbezeichnung für Anthony. Er stammt aus Nottingham, trägt ein Spitzbärtchen wie Robin Hood, ein Pistolenhalfter, und Magazine baumeln an seinem Gürtel. Dort, wo andere Leute Oberarme haben, hat er Oberschenkel. Anthony ist Royal Marine, Special Forces. " Es ist meine vierte Tour in Afghanistan", sagt er gelassen. Sein Blick verrät, dass er das Handwerk des Tötens nicht nur theoretisch beherrscht.

Derzeit bildet Anthony Spezialeinsatzkommandos der afghanischen Armee aus. Wie das läuft? "Na ja, geht so. Es ist okay." Okay? "Ja, das ist alles, was man nach zig Millionen Pfund und zehn Jahren, die wir hier investiert haben, sagen kann. Die Soldaten werden von uns bestens trainiert und mit modernster Ausrüstung ausgestattet. Und trotzdem haben sie absolut keinen Plan. Wenn ich sie auf Fehler hinweise, höre ich immer nur 'Inschallah, Inschallah'. So ist das in diesem Scheißloch hier."

Anthony nippt an seinem Acht-Dollar-Gin-Tonic. Er hat sich warmgeredet. " Vergangene Woche haben wir sechs pakistanische Burschen hier in Kabul hoppgenommen. Keiner war älter als 18 Jahre. Sie hatten ihre Sprengstoffgürtel fein säuberlich im Zimmer ausgelegt und wollten sich in der Stadt in die Luft jagen. Als wir sie nach dem Grund fragten, war die Antwort: 'Weil es unser Glaube fordert, das hat man uns in der Koranschule gesagt.' Es ist kein Zufall, dass man hier erst das Jahr 1434 schreibt. Die Burschen hier leben im Mittelalter."

Vazierende Internationals

Für Peter, einen baumlangen Dänen, der in Kabul NGOs koordiniert, ist das eine grundverkehrte, weil typisch westliche Einschätzung. Er gehört zu dem Wanderzirkus von "Internationals", die von Krise zu Krise vazieren, und hat von Sierra Leone über den Mittleren Osten bis nach Afghanistan alles durch. "Die Afghanen müssen sich nicht auf uns, wir müssen uns auf die verdammten Afghanen einstellen. Es nützt nichts, wenn wir ihnen etwas von unseren Werten vorfaseln. Wir müssen sie nehmen, wie sie sind. Und die Afghanen bekommst du auf deine Seite, indem du ihre unglaubliche Gastfreundschaft in Anspruch nimmst", sagt er.

Trotz miserabler Sicherheitslage fährt Peter viel durchs Land. Er trifft Dorfälteste, Stammesführer, Milizionäre, die berichten, was sich in ihren Gegenden so tut. Was ihn ärgert, sind Politiker, die nach Kabul einfliegen, ein paar Termine machen, ein paar Bilder drehen und an ihre Wähler zu Hause denken statt daran, was denn hier in Afghanistan zu tun sei. "Komm rufen wir euren Minister (Michael Spindelegger, Anm.) an. Der soll herkommen, hier bekommt er die bei weitem besten Informationen über Afghanistan." Allerdings nicht mehr bei Peter, denn der muss wenig später seinen beeindruckenden Rausch ausschlafen, den er sich nicht zuletzt deswegen umgehängt hat, weil all die Heuchelei sonst so schwer zu ertragen ist.

Im Gegensatz zur Schönfärberei, wie sie im afghanischen Präsidentenpalast und im Hauptquartier der Internationalen Schutztruppe Isaf von schneidigen Generälen zum Besten gegeben wird, haben Peter und Anthony nach all den Drinks eine vielleicht brüchige, aber doch sehr nüchterne Lageeinschätzung für Afghanistan.

In der Gandamak Lodge gibt es niemand, der behaupten würde, die Taliban seien niedergekämpft. Zwischen den Seeschlachtbildern und britischen Kriegsdevotionalien, mit denen die Atmosphäre ein wenig heimeliger werden soll, sagt keiner, dass die Übergabe der politischen und militärischen Verantwortung an die Afghanen wie am Schnürchen laufe und der Abzug der internationalen Truppen bis Ende 2014 nur folgerichtig sei. In einem Etablissement, das seinen Namen mit dem Massaker am Gandamak-Pass teilt, wäre das wohl auch zu viel an Galgenhumor. Immerhin wurden dort 1842 die letzten, aus dem ersten britisch-afghanischen Krieg zurückweichenden Truppen Ihrer Majestät bis auf einen einzigen Mann aufgerieben.

Ein ruhiger westlicher Diplomat, der lieber reden mag als trinken, gibt sich alle Mühe, hin und wieder ein wenig zu lächeln. Aber der versuchte Optimismus gefriert beinahe in jedem Satz, den er den Gästen atemlos mitgibt: Die Sicherheitslage sei heute schlechter als vor der massiven amerikanischen Truppenaufstockung 2009. Die Taliban säßen in den Bergen und warteten nur darauf, bis die westlichen Streitkräfte abziehen. Sie kontrollierten bereits viele der wichtigen Straßen im Land. Fünf ihrer Kämpfer genügten, um hunderte Soldaten zu binden. "Warum sollte es in so einer Lage ohne die Isaf besser sein als mit?"

40 Prozent Minus

"Dabei", sagt der kleine Mann, "sind Sicherheitslage oder politische Machtübergabe gar nicht das größte Problem hier. Die Weltbank hat ausgerechnet, dass ein Abzug der Internationalen einen Wirtschaftseinbruch von 40 Prozent des Bruttosozialprodukts bedeuten würde. Wer soll das auffangen? Wie soll sich das jetzige System so außerhalb Kabuls halten?"

Antworten kann er nicht geben. Antworten kann niemand, will niemand mehr geben. Auch wenn die Wahlen in einem Jahr fairer verlaufen als jene 2009, von einer Demokratie ist Afghanistan nach mehr als zehn Jahren Besatzung so weit entfernt wie die Gandamak Lodge von SoHo.

Das ist die Wahrheit, die man hier finden kann. Runter mit dem letzten Gin. Der Toyota wartet. Wir fahren ab. Raus hier. Raus. (Christoph Prantner, Album, DER STANDARD, 16./17.3.2013)