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Der erste Schlag auf Bagdad am 19. März, danach begann im Süden die Invasion

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Am 9. April 2003 verschwand das Regime von Saddam Hussein. Damals reagierten die Iraker noch, wie es die USA erwartet hatten.

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I. Der Irrtum

Als am ersten Kriegstag nach etlichen vergeblichen Versuchen, nach Bagdad durchzukommen, bei den Freunden wider Erwarten doch noch das Freizeichen und gleich darauf die Stimme von S. ertönte, fiel mir nichts Besseres ein, als zu fragen: "Was tut ihr?" Die nüchterne Antwort: "Na was schon, wir schauen CNN!"

Satellitenschüsseln waren zwar verboten, aber S. hatte seit Jahren eine. Er wurde einmal verraten, aber die Sicherheitskräfte, die zu ihm ins Haus kamen, bestach er - Geld hatte er genug, denn er hatte einen Handel mit den Schüsseln aufgezogen. Unvergesslich der Besuch mit ihm beim (längst verstorbenen) chaldäischen Papst, dem er auch gleich eine andiente.

Warum das wichtig sein soll? Ein paar Jahre früher hätte sich S. nicht freikaufen können, den Vorstoß beim Patriarchen hätte er nie gewagt. Die irakische "Republik der Angst", die die USA mit ihrem Einmarsch 2003 zerstören wollten, gab es längst nicht mehr. Es gab gar keinen Staat mehr, die zwölfjährigen Sanktionen hatten ihn aufgefressen. Die USA stießen 2003 ein Kartenhaus um. Der Autor von The Republic of Fear, Kanan Makiya (er schrieb unter dem Pseudonym Samir al-Khalil), hatte zu jenen Exilirakern gehört, die der willigen US-Regierung das Blaue vom Himmel versprachen: Empfang mit Rosen für die US-Soldaten, Einführung der ersten Demokratie im Nahen Osten. Am fünften Jahrestag der Invasion sagte Makiya: "Ich habe mich geirrt." Dem Irak hatte er da längst wieder den Rücken gekehrt - wie hunderttausende Flüchtlinge, nur unter bequemeren Umständen.

Der irakische Staat war 2003 vor den Augen der USA kollabiert, es gab nichts, worauf man aufbauen konnte, keine Strukturen, keine Institutionen. Wäre das totale Abrutschen noch zu verhindern gewesen, wenn die Amerikaner nach einer ehrlichen Bestandsaufnahme ihre Politik danach gerichtet hätten? Wenn die US-Armee Chaos und Plünderungen, die sofort einsetzten, verhindert hätten, wenn sie bereit gewesen wären, zuerst als Polizei und dann als "Nation Builder" zu fungieren?

Daniel Byman kommt in seinem Artikel von 2008 - An Autopsy of the Iraq Debacle (in: Security Studies) - eher zu dem Schluss, dass es auch bei Vermeidung der katastrophalen US-Fehler schwierig geworden wäre. Nach den Erfahrungen der ersten zwei Jahre "Arabischer Frühling" könnte man ihm insofern recht geben, als nun bestätigt ist, dass "freie" - wer ist schon frei nach Jahrzehnten unter solchen Regimen? - Wahlen jedenfalls kein Allerheilmittel sind. Im Irak ließen die USA erst zwei Jahre nach der Invasion wählen, als der Countdown zum Bürgerkrieg bereits begonnen hatte.

Aber bei den USA waren es eben mehr als nur "Fehler". Da war zu allererst einmal die Kriegsgrund-Lüge (dazu später mehr). Dazu kam eine seltsame Mischung aus Arroganz, Unwissen - und Kitsch, der sich europäischen Kriegsskeptikern gegenüber etwa so äußerte, dass diese ständig auf den Zweiten Weltkrieg und die Befreiung Europas durch die USA verwiesen wurden. Hatte der Irak etwa keinen Anspruch auf diese zivilisatorische Gnade?

Und dann zogen sie in den Irak ein und waren drei Wochen später in Bagdad, und da gab es jubelnde Iraker! Sie hatten also recht, und wir hatten unrecht gehabt. Ich erinnere mich an einen US-Diplomaten, der mir die Hand nicht mehr gab, nachdem ich den US-Triumphalismus nach " Kriegsende" kritisierte und schrieb, die USA sollten sich nicht täuschen: Sie hätten den Krieg nicht "gewonnen", sondern dieser sei - einstweilen - abgesagt worden. Dieser Diplomat ließ sich später nach Bagdad versetzen und nahm kurze Zeit später wieder den Kontakt auf ...

Es fällt ja nicht leicht, einer Supermacht wie den USA, 2003 noch unbestrittener die einzige Supermacht als heute, "Unwissen" zu unterstellen. Paul Bremer, der glücklose amerikanische Vizekönig in Bagdad, bekommt heute das ganze Fett als Scharlatan ab - aber entsandt und gewähren lassen haben ihn Dick Cheney und Konsorten. Dieser Bremer also sagte 2003, als er die irakische Armee auflöste und den USA so mit einem einzigen Federstrich ein paar Millionen Feinde bescherte, er tue dies, um den Irakern unmissverständlich klarzumachen, dass Saddam Hussein Geschichte sei. "Seine" Armee war tot.

An dem Tag, an dem diese Nachricht aus Bagdad kam, hatte ich zufällig mit einer kleinen internationalen Journalistengruppe einen Termin bei König Abdullah II. von Jordanien. Der, selbst ein Mann des Militärs, war bleich vor Entsetzen und Ärger. Ja wussten denn die Amerikaner nicht, dass die irakische Armee immer eine "nationale" gewesen war, eine, der Saddam Hussein nicht einmal richtig traute? Der Schlag, auf den Bremer so stolz war, richtete sich nicht gegen Saddam, sondern gegen die irakische Identität, den nationalen Zusammenhalt. Ich kann mich nicht mehr genau an seine Worte erinnern, aber König Abdullah sagte so etwas wie "Jetzt ist es aus."

Und das war es gewissermaßen auch. Die Amerikaner hatten die Iraker in Freunde und Feinde geteilt, und diese verhielten sich entsprechend. Das war, bevor die Amerikaner selbst Verbrechen an den "Undankbaren" begingen (Stichwort Abu Ghraib) und die geheimen Folterkerker bei ihren Freunden, den befreiten Schiiten, entdeckten. Es ist sinnlos, die unterschiedlichen "Body Counts" im Irak nach 2003 miteinander zu vergleichen, und schon gar, sie mit gegen die Opferzahlen Saddams aufzuwiegen. Es war eben nicht mehr die alte, sondern eine neue Hölle, die sich im Irak auftat.

Mein Freund S., der 2003 sofort gemeinsam mit seiner Frau mit voller Überzeugung für die US-Verwaltung in Bagdad zu arbeiten begann, wurde 2006, als ich für das österreichische Außenministerium in Bagdad war, entführt. Mein finsterster Tag. Die Freunde kratzten das Lösegeld zusammen, S. war Sunnit, deshalb brachten ihn seine Entführer nicht um, sondern warfen ihn, nachdem sie das Geld erhalten hatten, immerhin nur aus dem fahrenden Auto. Er überlebte, nahm seine Familie und verließ das Land. Seine Entführer beschrieb er als völlig entkulturalisierte - er sagte, sie hätten nicht einmal ordentlich sprechen können, die verlorene Generation der Sanktionszeit - junge Kriminelle, die ihre Taten mit einem sunnitischen Jihad gegen USA und Schiiten rechtfertigten.

II. Der Wahnsinn

Kanan Makiya hat 2012 die US-Regierung aufgerufen, militärisch in Syrien einzugreifen: Logischerweise berief er sich dabei nicht auf die US-Intervention im Irak 2003, sondern verwies auf das Versäumnis von US-Präsident George H. W. Bush, dem Vater des Kriegsherrn von 2003, im Jahr 1991: Wenn die USA damals den Golfkrieg in aller Konsequenz geführt und Saddam Hussein gestürzt hätten, wäre der Irak noch zu retten, die irakische Gesellschaft noch nicht so kaputt gewesen, argumentierte er.

Das mag richtig sein, aber wenn Kanan Makiya, der Brandeis-Professor, meint, Syrien durch eine US-Intervention das irakische Schicksal ersparen zu können, dann irrt er schon wieder. Denn Syrien ist nicht wie der Irak 1991, sondern die Tragödie, die sich heute in Syrien abspielt, hat 2003 im Irak begonnen. Im Irak führte der Kollaps des Staates zu dem, was in Syrien heute zum Kollaps des Staates führt: der Ausbruch des konfessionellen Wahnsinns.

Bush senior hat 1991 den Irak-Krieg "nicht zu Ende geführt", wie es heißt: Einer der Gründe, und vielleicht der gewichtigste, war, den Iran nicht von Saddam Hussein befreien zu wollen (weswegen man ja 1991 dem besiegten Irak auch seine konventionellen Waffen nicht weggenommen hatte: Er sollte zumindest seine Grenzen verteidigen können). Es ist richtig, dass dieses Argument 1991, nur zwei Jahre nach Ayatollah Khomeinis Tod, schwerer wog als im Jahr 2003, als in Teheran seit sechs Jahren der kultivierte Gelehrte Mohammed Khatami Präsident war (der nach 9/11 brav mit den Amerikanern in Afghanistan kooperierte und dennoch 2002 in einer Rede von George W. Bush auf der "Achse des Bösen" landete). Jedenfalls kam die Geschichte so, wie sie kommen musste:

Der von einer tribal-mafiösen Herrschaft eines (nominell) sunnitischen Clans befreite Irak - die Hinrichtung des Despoten entgleiste zu einer Art schiitischem Racheritual - geriet rasch unter die kulturelle und politische Hegemonie der Mehrheitsgruppe, der religiösen Schiiten, mit ihrem einfachen Verständnis von "Demokratie" als einer Herrschaft der Mehrheit - und mit ihren traditionellen Beziehungen zu Teheran. Diese waren keineswegs immer spannungsfrei, und die irakischen Schiiten sind auch alles andere als eine homogene Gruppe. Aber trotzdem: Das war ein ganz neuer Irak, einer, der aus dem sunnitisch-arabischen Orbit in den schiitisch-iranischen gekippt war.

So sahen es jedenfalls die arabischen Sunniten am Golf, in Jordanien - den "schiitischen Halbmond", der nun über der Region hing, hatte König Abdullah zum ersten Mal benannt - oder auch in Ägypten, wo Hosni Mubarak 2006 sagte, die Schiiten in den arabischen Ländern sähen Teheran als ihre eigentliche Hauptstadt an. Und die Iraner spielten auf dem irakischen Schachbrett natürlich auch ihre eigenen Züge gegen die Amerikaner. Welche Freude, die Supermacht so hilflos zu sehen.

Und aus aller Herren Ländern setzten sich die sunnitischen Jihadisten in Richtung Irak in Bewegung - wo sie die Verlierer von 2003 einsammelten. Erst ab 2007, als sie in einem Albtraum des gegenseitigen Abschlachtens von Sunniten und Schiiten erwachten, begannen die "Aufständischen", sich wieder von Al-Kaida abzuwenden.

Aber die Saat war gesät, sie blieb in der Erde, und mit dem Aufstand in Syrien begann sie wieder zu sprießen. Musab al-Zarqawi, der 2006 getötete Chef der irakischen Al-Kaida, hatte immer nicht nur für den Irak, sondern für den ganzen Raum gedacht, "Bilad al-Sham", Großsyrien. Die Jihadisten in Syrien knüpfen direkt an Zarqawi an, wenn sie in einem unlängst von Cole Bunzel (Princeton) in Jihadica aufgearbeiteten Dokument ihre Ablehnung der "Sykes-Picot-Grenzen" - der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen britisch-französischen Ordnung für die Region - betonen.

Schlechte Nachrichten auch für König Abdullah, der sich so vor den Schiiten fürchtet: Ihn nennen sie den "Sohn der Kreuzritter in Jordanien" . Das erste Ziel jedoch sei die "Auslöschung" der Alawiten in Syrien, die sonst von der "Zionisten-Kreuzritter-Zoroastrier"-Allianz (mit den Zoroastriern sind die Iraner gemeint) als "Nagel im Hals der Sunniten" bewahrt würden.

Der erste Anlauf der Jihadisten im Irak scheiterte, jetzt kommt die nächste Chance. Syrien ist nur der Beginn. Auch der Libanon muss befreit werden, Palästina ohnehin. Wobei die strategische Überlegung im erwähnten Jihadisten-Dokument, Israel jetzt nicht anzugreifen, der anderen Seite natürlich als Beweis dafür gilt, dass "die Zionisten" in Wahrheit mit den Jihadisten unter einer Decke stecken. Im Nahen Osten stünde demnach eine Zionisten-Kreuzritter-Sunniten-Golfaraber-Allianz einer Zionisten-Kreuzritter-Schiiten-Iraner-Allianz gegenüber.

III. Die Lüge

Der jetzige Syrien-Vermittler Lakhdar Brahimi, der 2004 im Auftrag der Uno im Irak war, hielt sich 2007 für ein Gastsemester in Princeton auf. Von dort aus kontaktierte er mit dem Irak befasste Bekannte - unter anderem die Autorin dieses Artikels - und fragte deren Meinung dazu ab, was die USA denn tatsächlich zum Einmarsch in den Irak veranlasst habe. 2011, zum zehnten Jahrestag von 9/11, stellte ich ihm seine eigene Frage in einem Standard-Interview, wollte wissen, zu welchem Schluss er gekommen sei. Er habe noch nie eine befriedigende Antwort gehört, sagte Brahimi. Das mache alles einfach keinen Sinn.

Zum zehnten Jahrestag werden auch die Massenvernichtungswaffen wieder ausgegraben, die ja als Kriegsgrund forciert wurden: der berühmte Atompilz am Horizont. Wenn es eine Verschwörung war, dann waren nur wenige beteiligt: Es heißt zum Beispiel, dass sich Bushs damaliger Außenminister Colin Powell von der Schande, mit der Präsentation seines " mobilen Biowaffenlabors" vor dem Uno-Sicherheitsrat Erfüllungsgehilfe geworden zu sein, persönlich nicht mehr erholt.

Die Frage lautet meist "What went wrong?": Gemeint ist das Versagen der Geheimdienste, welche die Gefahr, die vom Irak ausging, überschätzt hätten. Aber man muss nicht so radikal sein wie Jeremy R. Hammond in The Lies that Led to the Iraq War and the Persistent Myth of Intelligence Failure (in: Foreign Policy Journal), um zu vermuten, dass eigentlich nichts schiefgegangen war: Es war kein "Versagen". Es war eine äußerst erfolgreiche Desinformationskampagne.

Nicht die Realität erzeugte die Politik, sondern die Politik die Realität. Dass die Argumente schwach waren, zeigte nicht die Schwäche der USA - dass sie gar keine Argumente, die einer Überprüfung standhielten, brauchten, zeigte ganz im Gegenteil ihre Stärke. Der Legitimationsaufwand war gering: Die Aluminiumhülsen sind ungeeignet für ein Urananreicherungsprogramm? Das Dokument, das beweist, dass der Irak in Niger Uran einkaufen wollte, ist plump gefälscht? Ändert das etwas daran, wie man Massenvernichtungswaffen buchstabiert? Mit I wie Irak?

Viel ist da noch aufzuarbeiten: In Wahrheit beginnt ja die Geschichte viel früher. Nur von 2003 ist immer die Rede, nicht aber davon, dass der Irak bereits im Dezember 1998, als US-Präsident Bill Clinton das Land mit Operation Desert Fox abstrafte, keine Massenvernichtungswaffen und -programme mehr hatte, seit Jahren schon nicht mehr.

Man müsste sich etwa noch einmal genauer das Jahr 1997 ansehen. Da bereitete das Iraq Action Team der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) einen umfassenden Bericht über die Zerschlagung des irakischen Atomprogramms vor. Die inhärente Botschaft des Berichts war, dass die " Abrüstungsphase" (wobei der Irak nie eine Waffe produziert hatte) vorbei sei. Trotz einzelner nicht völlig aufgeklärter Fragen meist nichttechnischer Natur (etwa der Verschleierungsmechanismus innerhalb des Regimes) sollte die zukünftige Hauptarbeit der IAEA-Inspektoren auf Kontrolle und Verifikation liegen - damit sich an diesem atomaren Null-Status nichts ändere.

Die US-Diplomatie begann gegen diese Linie des Berichts Sturm zu laufen, der IAEA wurde wenig subtil mit Konsequenzen gedroht. Für jedes Argument der IAEA war sofort ein US-Gegenargument da - prompt geliefert von den Geheimdiensten. Der damalige US-Staatssekretär für Non-Proliferation Robert Einhorn - der 1997 einer der Druckmacher war - bestätigte mir "a kind of perverse role by policy makers who thought they were doing fairly innocent things". So begann die Produktion politisch gewünschter Geheimdienstinformation.

Die politische Motivation der USA ist nachzuvollziehen: Der Irak unter Saddam Hussein sollte "eingefroren" bleiben, ein IAEA-Bericht, der einen Abschluss auch nur andeutete, war kontraproduktiv. Aber wann hat sich der Untermauerungsapparat, der für diese Politik gebraucht wurde, verselbstständigt? Ab wann haben die Produzenten der Informationen selbst daran geglaubt? Oder haben sie das ohnehin nicht?

Es war ein gewisses Risiko für die USA, 2002 noch einmal eine Inspektionsphase zuzulassen: Aber auf Saddam Hussein war insofern Verlass, als er vielleicht den Amerikanern gegenüber, aber bestimmt nicht seinem Nachbarn Iran die Hosen völlig heruntergelassen hätte, um es einmal salopp zu sagen. Weil da nämlich nichts darunter gewesen wäre.

Und der Irak heute? Die Ölindustrie funktioniert wieder, sonst nicht viel. Der schiitische Premier Nuri al-Maliki regiert autokratisch - seine Gegner sprechen von einem "neuen Saddam". Das ist natürlich übertrieben, zeigt aber den Grad der Spaltung im Land. Sie verläuft zwischen Schiiten und Sunniten, Säkularen und Religiösen, Kurden und Arabern. Das Beste, was man dem Land momentan wünschen kann, ist, dass es nicht völlig in den Sog Syriens gerät. Dort kämpfen auch irakische Sunniten (für den Aufstand) und irakische Schiiten (für Assad), und irgendwann kommen sie wieder zurück. (Gudrun Harrer, Album, DER STANDARD, 16./17.3.2013)