Jacques Chirac kann George W. Bush zu Recht beneiden. Während der französische Präsident mit seinem Vorstoß, die strikte Dreiprozentgrenze des EU-Stabilitätspaktes etwas aufzuweichen, breite Empörung hervorrief, präsentierte das Weiße Haus unbekümmert ein Rekorddefizit für den US-Bundeshaushalt, das mit 455 Milliarden Dollar mehr als 4,2 Prozent des amerikanischen Bruttoinlandsprodukts ausmacht. Das liegt zwar immer noch unter dem Höchstwert von sechs Prozent, den George Bush Sr. 1992 einfuhr. Aber wenn man bedenkt, dass die USA noch vor drei Jahren einen Milliardenüberschuss hatte und das Defizit nächstes Jahr weiter steigen wird, dann wird die neue Schuldenpolitik zur vielleicht wichtigsten Weichenstellung dieser Präsidentschaft - mit weiter reichenden Folgen als sogar der Irakkrieg.

Zugegeben, auch unter einem Präsident Gore wären die Überschüsse der Clinton-Ära durch die lahmende Konjunktur und die massiv gestiegenen Ausgaben für innere Sicherheit nach dem 11. September 2001 zerbröselt. Doch Bush legte dem noch ein massives Aufrüstungsprogramm und einen teuren Irakkrieg sowie mehrere Steuersenkungsrunden drauf, die vor allem der Geldelite des Landes zugute kommen und nur wenig zur Ankurbelung für die Konjunktur beitragen. Und plötzlich hört man in Washington, Defizite seien gar nicht so schlimm.

Zuletzt wurden vor 20 Jahren unter Ronald Reagan die Steuern so massiv gesenkt - wenn auch von einem weit höheren Niveau. Das führte anfangs zu mehr Wirtschaftswachstum und einem Börsenboom, aber auch zu höheren Realzinsen, die die Investitionsneigung der Privatwirtschaft hemmten. Da die Amerikaner traditionell wenig sparen, musste das Defizit über Kapitalimporte finanziert werden und zog so bitter benötigte Mittel aus dem Ausland ab. Die ganze Welt litt unter höheren Zinsen.

Es war US-Notenbankchef Alan Greenspan, der 1993 den taufrischen Präsidenten Bill Clinton davon überzeugte, mit Steuererhöhungen das Budget zu sanieren und so seiner Federal Reserve den Spielraum für kräftige Zinssenkungen zu geben. Der kluge Rat ging auf: Niedrigere Zinsen kurbelten die Konjunktur an und schufen so die Grundlage für das Wirtschaftswunder der Neunzigerjahre.

Umso erstaunlicher ist es, dass Greenspan heute Bushs Steuersenkungen und Megadefiziten seinen Segen gibt. Vielleicht will er nur seinen Job behalten, vielleicht teilt

er als Anhänger der radikal- konservativen Denkerin Ayn Rand auch die unausgesprochene Agenda vieler Republikaner: durch gigantische Defizite so viel Spardruck zu erzeugen, dass der ungeliebte Wohlfahrtsstaat, an dessen Zerstörung schon Reagan gescheitert war, diesmal tatsächlich aus der Welt geschafft werden kann.

Es stimmt, dass sich die USA eher eine Defizitpolitik leisten können als die Europäer, die neben ihren Schuldenbergen auch riesige ungedeckte Pensionsverpflichtungen mit sich herumschleppen. Amerikas Gesellschaft ist jünger, obwohl auch dort laut neuesten Studien eine demografische und finanzielle Zeitbombe lauert. Allerdings werden die Bush-Defizite wegen der geringen Sparquote zum Großteil von Ausländern finanziert. Sollte das Vertrauen in die USA einmal schwinden, drohen den Anleihenbesitzern bei einem Dollarsturz massive Kursverluste.

Diese Gefahr kümmert Bush wohl wenig. Wichtiger ist ihm, wie sich die Defizite politisch auswirken. Reagan konnte die rote Flut einst straflos ignorieren, Vater Bush aber kostete sie das Amt. Er wurde zwischen erbosten Rechten, die ihm vorsichtige Steuererhöhungen nicht verziehen, und dem Milliardär Ross Perot, der im Wahlkampf 1992 das Defizit zum Krisensymptom hochstilisierte, aufgerieben.

In Folge des 11. September beschäftigt die Amerikaner Terror weit mehr als Defizite. Dennoch bleibt die verfehlte Wirtschaftspolitik der Bush- Regierung die beste Chance für die Demokraten. (DER STANDARD Printausgabe, 17.7.2003)