Vor 75 Jahren ging Österreich im "Anschluss" an Hitler-Deutschland unter, vor 25 Jahren begann erstmals eine wirklich kritische Auseinandersetzung mit dieser Katastrophe. Heute ist es so, dass nach den Worten von Heinz Fischer "alle wissen oder wissen müssten (sic!)", welches absolute Verbrechen der Nationalsozialismus war. Und dass es keine Kollektivschuld, aber eine Verantwortung gibt. Damals, rund ums "Gedenkjahr 1988", war die Atmosphäre noch massiv von Schuldabwehr, Schuldumkehr, Verdrängung und Selbstbetrug breitester Kreise bestimmt. Aber der Deckel war nicht mehr draufzuhalten.

Die Affäre Waldheim wirkte als Verstärker. Kurt Waldheim hatte glatt die Unwahrheit gesagt, indem er erklärte, er habe nichts von Kriegsverbrechen und Judenmord gewusst. Das war mit seiner Position als Militärbürokrat im Generalstab der Heeresgruppe E auf dem Balkan unvereinbar. Viele konnten sich auch mit seiner Aussage identifizieren, er habe im größten Vernichtungskrieg der Weltgeschichte "nur meine Pflicht getan". Er wurde 1986 triumphal gewählt. Aber auf die Dauer war seine verständnislose Selbstgerechtigkeit nicht zu halten.

Daran war nicht nur das böse Ausland schuld, sondern auch eine Generation von jüngeren österreichischen Historikern, Intellektuellen, Künstlern, Journalisten - und einigen Politikern wie Franz Vranitzky. Sie waren nicht mehr willens, die große Lebenslüge von Österreich als reinem Nur-Opfer des Nationalsozialismus zu akzeptieren, und sie brachten eine neue, ehrlichere Qualität in die historisch-politische Diskussion.

Es war eine Zeit tiefgreifender Auseinandersetzungen. Die Kronen Zeitung mit Wehrmachtsfan Hans Dichand und dem kaum verhohlen antisemitischen "Staberl" hatte Dauer-Tobsuchtsanfälle. Bei den kritischen Medien - Profil, Kurier, ORF - gingen massenweise Publikumsreaktionen ein, aus denen bei aller Rechtfertigungssucht der - oft unbewusste - Wunsch sprach, sich endlich etwas von der Seele zu reden. Am Redaktionstelefon konnte man damals ganze Lebensgeschichten hören, die als wütende Anklage gegen "ahnungslose Spätgeborene" begannen und als schluchzende Eingeständnisse des Mitwissens und Miterlebens furchtbarer Verbrechen endeten.

Ein gewisses Aufsehen erregte eine Aktion, bei der Prominente (André Heller, Karl Schwarzenberg, Axel Corti) und andere eine "Mahnwache" vor dem Symbol des Widerstandes ("O5") an der Mauer des Stephansdoms hielten. Wochenlang bildeten sich davor Trauben von wild diskutierenden Menschen bis tief in die Nacht. Wobei man sich bezüglich der Jüngeren keine übertriebenen Illusionen machen darf: Viele gingen dann zum neuen Stern Jörg Haider, weil er ihnen als akzeptable, moderne Form einer sehr rechten Politik erschien. Viele, die Gebildeteren, wendeten sich allerdings auch den Grünen zu, die bis heute am verlässlichsten gegen Rechts sind.

Viele von den Einstellungen (besonders gegenüber Juden), die damals offen, ja geradezu mit gutem Gewissen gezeigt wurden, sind heute gesellschaftlich sanktioniert. Zu viel darf man aber dennoch nicht erwarten. Der Nationalsozialismus ist bei den meisten diskreditiert (auch wenn viele immer noch sagen, er habe auch "gute Seiten" gehabt); aber den logischen Schluss, dass damit auch die meisten "hart rechten" politischen Ziele und Methoden diskreditiert sind, ziehen nur relativ wenige. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 13.03.2013)