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Guppys mit Persönlichkeit: Die kleinen Süßwasserfische wählen ihre Kontakte nach Charakterzug aus. Nicht jeder kann mit jedem.

Foto: AP/Clelia Gasparini

Biologen decken nun das Beziehungsgeflecht auf, das auf den Unterschieden zwischen Kontaktfreudigen und Einzelgängern, Wagemutigen und Vorsichtigen basiert.

Es ist eines der größten Rätsel der Biologie. Tiere sollten auf ihren eigenen Vorteil bedacht sein und sich egoistisch verhalten, besagt die Darwin'sche Evolutionstheorie. Nur - das tun sie häufig nicht: Löwinnen jagen im Rudel, statt sich alleine an der Beute satt zu fressen.

"Raben und Krähen bilden hochstrukturierte Netzwerke. Aber nicht jeder Vogel pflegt jedem anderen das Gefieder, und nicht jeder kämpft für jeden anderen", weiß Kognitionsbiologin Christine Schwab von der Universität Wien. Fast alle Tiere lieben Gesellschaft, auch solche Arten, die nicht in Schwärmen leben. Sie kooperieren statt zu konkurrieren. Warum nur kultivieren sie derartigen Altruismus?

Die Individuen, allemal in Vogel- und Fischschwärmen, so nahm man lange an, sind alle gleich - quasi austauschbar. "Das stimmt nicht", erklärt Tiernetzwerkforscher Jens Krause vom Berliner Leibniz-Institut für Gewässerökologie in Berlin. Auf den ersten Blick sehen sich Fische im Schwarm zwar zum Verwechseln ähnlich, aber keine zwei Tiere sind gleich. Sie variieren in den Genen, dem Geschlecht, der Größe und dem Alter, aber vor allem im Verhalten. Es gibt vorsichtige Fische und wagemutige, Einzelgänger und Gesellige. Bei nahezu allen Spezies von Katzen über Mäuse bis zu Delfinen haben Biologen in den vergangenen Jahren solch individuelle Unterschiede im Verhalten gefunden.

Tiere haben Persönlichkeit, heißt es seither. Das wirkt sich auf die Gemeinschaft aus: "Die Charakterunterschiede begünstigen Kooperation", erklärt Krause. "Sie sind typisch für Tiernetzwerke." Einzelgänger sondern sich ab, und die Kontaktfreudigen bilden den Kern des Sozialgefüges. Die Wagemutigen spähen nach Feinden, und die Vorsichtigen profitieren davon. Weil die Tiere verschieden sind, halten sie zusammen und bilden ein Netzwerk. Die Diversität sorgt für Gemeinschaft. Die Charakterunterschiede führen aber auch dazu, dass die Tiere unterschiedlich stark vernetzt sind. Nicht jeder kann mit jedem.

Wählerische Guppy-Damen

Seit vielen Jahren fliegen Jens Krause und sein britischer Kollege Darren Croft von der Universität Exeter auf die karibische Insel Trinidad, um dort das Netzwerk kleiner Süßwasserfische, der Guppys, zu entwirren. Jedes Tier markieren sie mit zwei farbigen Punkten auf dem Rücken und können so bis zu 200 Fische mit bloßem Auge und viel Training auseinanderhalten. Tagelang stehen sie im kniehohen kristallklaren Wasser und beobachten das Treiben der Tiere.

"Deren Netzwerk ist unglaublich dicht", so Croft. Als Grafik dargestellt gleicht es einem undurchdringlichen Knäuel von Punkten, den Fischen, und schwarzen Verbindungslinien, den Kontakten zwischen den Tieren. Fast im Sekundentakt begegnen sich Fische. Und doch lässt sich bei eingehender Analyse ein Muster erkennen: Im Zentrum des Netzwerks stehen ausgewachsene Weibchen. Sie schwimmen am häufigsten im Schwarm mit anderen Tieren und haben am meisten Kontakte. Die Damen sind dabei allerdings durchaus wählerisch.

Sie suchen sich aus, mit wem sie umherziehen. Weder das Geschlecht noch die Verwandtschaft sind dabei von Belang, sondern der Charakter. " Rastlose Tiere schwimmen gern mit Rastlosen. Tiere, die immer auf der Futtersuche sind, bevorzugen ebensolche. Gesellige suchen sich wieder Gesellige", beschreibt Krause. Kurzum: Gleich und Gleich gesellt sich gern. "Diese Gruppenbildung ist die Basis für kooperatives Verhalten", sagt Croft. Denn auch die gegensätzlichen Charaktere brauchen einander.

Das zeigen bisherige Experimente. Im Labor stellten Krause und Croft beispielsweise den Mut der Guppys auf die Probe. Sie jagten ihnen mit einer Raubvogelattrappe einen Schreck ein und zeichneten auf, wie lange die Tiere in der Schreckstarre verharrten. Die Mutigen hatten den Schock schnell überwunden, die Ängstlichen brauchten etliche Minuten.

Dann stellte Krause vier kühne Fische, vier Ängstliche und ein gemischtes Quartett zu je drei Teams zusammen. Diese traten sodann gegeneinander an: Zunächst wurden sie mit dem Raubvogel erschreckt, dann wurde eine Futterquelle ins Aquarium gehängt. Die Kühnen und das gemischte Team überwanden den Schrecken schneller und machten sich früher als die Ängstlichen auf den Weg zum Futter. Stets schwamm ein ängstlichster Guppy direkt hinter einem Risikofreudigen.

Die Vorsichtigen profitieren so, indem sie schneller an etwas zu fressen kommen. Doch, und das erstaunte beide Forscher, das gemischte Team fraß insgesamt mehr als die vier Waghalsigen. Diesen kam somit auch die Gesellschaft der Ängstlichen zugute. In freier Wildbahn finden sich in jedem Schwarm ohnehin beide Charaktere. Das ist zum Vorteil beider, legt das Experiment nahe.

Fellpflege-Netzwerk

Es ist vor allem das Verhalten und kaum das Erbgut der Tiere, das die Netzwerkstruktur bestimmt. Das fand Bernhard Völkl, Biologe an der Humboldt-Universität zu Berlin, auch bei Affen. Besonders gerne untersuchen die Forscher hier sogenannte Fellpflegenetzwerke. Sie beobachten, wer wem den Pelz reinigt. "Diese Handlung hat einen klaren Anfang und ein klares Ende. Sie ist leicht zu erkennen", sagt Völkl.

Gemeinsam mit Primatenforscherin Claudia Kasper von der Universität Straßburg wertete er 81 Fellpflegegemeinschaften von 32 verschiedenen Primatenarten aus. Im Schnitt bilden sich unabhängig von der Spezies Gruppen von neun Affen, die einander gegenseitig lausen. Aber die Struktur des Wer-pflegt-wen variierte selbst innerhalb einer Art stark. In manchen Fällen gab es einen Kern an Tieren, der besonders intensiv gepflegt wurde. In anderen wurde allen in etwa die gleiche Aufmerksamkeit zuteil. Nah verwandte Gorillas und Schimpansen mit ähnlichem Erbgut können in puncto Fellkosmetik auch ganz unterschiedlich organisiert sein. Dagegen können bei weit entfernten Arten wie Makaken und Menschenaffen ähnlich zentralisierte Strukturen beispielsweise mit einem Pflegehäuptling auftreten. "Das Verhalten der Tiere und der Lebensraum sind viel wichtiger für das soziale Gefüge als die Gene", fasst Völkl zusammen.

Erst allmählich durchblicken die Forscher das Geflecht der Beziehungen und seine Folgen. Viele Netzwerke geben nach wie vor Rätsel auf. Das soziale Gefüge bei Raben und Krähen etwa zerfällt in zwei Gruppen: Paare, die Nachwuchs pflegen, schotten sich ab und zeigen ausgeprägtes Territorialverhalten. Dagegen organisieren sich die Ungebundenen und die Jungvögel in Scharen wechselnder Besetzung. Des Nachts versammeln sie sich zu Tausenden auf wenigen Bäumen zum Schlafen. Tagsüber bilden sich kleinere Gruppen von einer Handvoll oder mehr Tieren und begeben sich auf Futtersuche.

"Wir wissen nicht, warum sie sich so organisieren", sagt Christine Schwab. Die Kognitionsbiologin interessiert insbesondere, wie Wissen in der Gruppe weitergegeben wird. Denn dadurch, dass nicht jeder Vogel mit jedem gleich gut kann, lernen die Tiere, so vermutet Schwab, auf unterschiedlichen Wegen voneinander. "Früher haben wir soziale Beziehungen bei Tieren immer auf der Ebene der Zweierbeziehung studiert. Jetzt interessiert uns das Netzwerk der Gruppe, und wir müssen erkennen, dass das kein Einheitsbrei ist, wie wir früher dachten." (Susanne Donner, DER STANDARD, 13.03.2013)