Amman/Mafraq – Eine knallgrüne Marionette steht neben einem küssenden Pärchen mit roten Lippen und schwarzer Kleidung. Das Bild ist der einzige Farbfleck in der sonst tristen Lobby des sandsteinfarbenen UNHCR-Registrierungszentrums in Amman und erinnert an vergangene Zeiten in der jordanischen Hauptstadt. Irakische Flüchtlinge, die am Höhepunkt des Krieges 2003 aus ihrem Heimatland hierher flüchteten, haben das rund drei Quadratmeter große Gemälde vor Jahren gemalt.

Viele der Iraker sind weg. Jetzt stehen vor allem Syrer dicht gedrängt vor dem vierstöckigen Gebäude des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen Schlange, um Einlass zu bekommen. Einmal drinnen, ist erneut Warten angesagt: Die Menschen sitzen und stehen in einem großen Raum im Kellergeschoß des Gebäudes, um sich registrieren zu lassen. "Aleppo", "Homs", "Daraa" und "Damaskus" antworten die Vertriebenen, wenn sie gefragt werden, woher sie kommen. Es sind vor allem Frauen mit ihren Kindern, die geflohen sind. Viele ihrer Männer sind daheim geblieben, um zu kämpfen, zu sterben oder zu beschützen, was noch nicht zerstört wurde. Mit ihrer Registrierung haben die Menschen Zugang zu Grundversorgung durch Hilfsorganisationen und das Haschemitische Königreich. Fotos sind hier für Journalisten tabu – selbst im sicheren Jordanien ist die Angst, in Syrien zurückgebliebene Verwandte zu gefährden, groß.

Seit zwei Jahren dauert der Konflikt im Nachbarland Syrien nun an. Die Menschenmassen, die vor den Kriegswirren fliehen, könnten Jordanien destabilisieren, befürchten Helfer. Die Wirtschaft gerät zunehmend unter Druck, die Sicherheitslage verschlechtert sich. Seit März 2011 sind mehr als 400.000 Syrer in das südliche Nachbarland geflohen. Und der Strom an Menschen reißt nicht ab: Am Ende des Jahres könnten mehr als eine Million Syrer in dem Sechs-Millionen-Einwohner Land Schutz und Unterstützung suchen, schätzt das UNHCR.

Regen, Schneefälle und nächtliche Temperaturen unter dem Gefrierpunkt erschweren Flucht und Alltag auf dem Weg nach Jordanien. Einige überqueren die Grenze legal, viele flüchten illegal durch die Wüste, in der es kaum Bäume, Flüsse und Leben gibt, nur Sand und Geröll. Beschuss durch syrische Truppen macht den Grenzübertritt oft lebensgefährlich. Einmal angekommen, sind die meisten der Vertriebenen auf Hilfe angewiesen.

Helfern fehlt Geld

Viele sind zu jung oder zu gebrechlich, um sich selbst versorgen zu können. In den engen Korridoren des UNHCR-Registrierungszentrums drängen sich vor allem Kinder, um auf ihre Dokumente zu warten. Die Hälfte aller Vertriebenen sind unter 18 Jahre alt, ein Fünftel sind Kleinkinder.

Die Zahlen könnten sogar Hilfsorganisation überfordern, einige der Helfer des UN-Flüchtlingshilfswerks wirken aufgerieben. Alle bisherigen Planungen und Befürchtungen wurden übertroffen. "Für diesen gewaltigen Zustrom an Flüchtlingen haben wir kein Geld, und wir wissen nicht, was noch passieren wird. Deswegen wirken viele hier so ratlos", sagt Aoife McDonnell vom UNHCR in den mit Menschen überfüllten Gängen des Registrierungszentrums in Amman. In Jeans und weitem T-Shirt steht die junge Irin in den verwinkelten Fluren und kann kaum einen Satz beenden, ohne dass sich mehrköpfige syrische Familien durchdrängen, um ihre Registrierungskarten zu beantragen. Der Ansturm ist so groß, "dass es inzwischen vor allem darum geht, die absoluten Grundbedürfnisse wie Versorgung mit Unterkünften und Nahrungsmitteln abzudecken". Das Geld dafür fehlt – das UNHCR ist chronisch unterfinanziert. 317 Mitarbeiter arbeiten derzeit für die Hilfsorganisation in Amman, viele davon Jordanier, benötigt werden mehr. Wie viele? "Sehr viel mehr", sagt McDonnell.

Auch Jordanien zahlt für den Bürgerkrieg in Syrien einen hohen Preis. Mindestens 600 Millionen US-Dollar kostete die Flüchtlingskrise das Land vergangenes Jahr, nur ein Bruchteil davon war durch internationale Hilfsgelder gedeckt.

"Die Zahl an Flüchtlingen, die hier in Zukunft noch ankommen könnten, ist beinahe grenzenlos, und es besteht das Risiko, dass der öffentliche Sektor überlastet und das Land destabilisiert wird", sagt McDonnell. Wasser, Elektrizität und Treibstoff werden mit hohen Beträgen staatlich subventioniert. All das sind Leistungen, die auch Flüchtlinge in Anspruch nehmen. Somit wird jeder einzelne Syrer zu einer zusätzlichen Belastung für das ohnehin knappe jordanische Budget. Erhöhungen der Brot- und Benzinpreise haben bereits zu Unmut und Demonstrationen geführt. Dass die Exporte ins Nachbarland Syrien eingebrochen sind, belastet die Wirtschaft zusätzlich.

Die finanziellen Belastungen spüren auch Jordanier wie Siham Umm Assad. Die Mutter von vier Kindern lebt mit ihrem Ehemann, drei Töchtern und einem Sohn in einer Zwei-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoß eines desolaten Hauses im nordjordanischen Mafraq. Der Krieg ist hier fast vor der Haustür, die syrische Grenze liegt nur 14 Kilometer vom Stadtzentrum entfernt.

Das Wertvollste im dem kleinen Wohnzimmer ist ein Teppich, der den Boden bedeckt. Neben einem Fauteuil und zwei Sesseln schmücken nur ein alter Holzkasten den schlecht beleuchteten Raum. Obwohl es im März bereits über 20 Grad hat, sind die Wände der Wohnung feucht, zum Beheizen ist oft kein Geld da. Der Vater und der 13-Jährige Sohn halten die Familie mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Die Familie ist großteils auf sich alleine gestellt, die Schwiegermutter ist vor kurzem gestorben, so dass sich nur mehr Siham Umm Assad um die Kinder kümmern und nicht arbeiten kann. Unterstützung erhalten sie von einer lokalen evangelikalen Kirche und der Hilfsorganisation Mercy Corps.

Mietpreise explodieren

Für Jordanier ist es schwieriger geworden, Arbeit zu finden, der Arbeitsmarkt kommt langsam unter Druck. "Mein Sohn hat bis vor kurzem in einem Secondhand-Geschäft gearbeitet, aber der Besitzer hat ihn soeben hinausgeworfen, um ihn durch einen Syrer zu ersetzen", sagt Siham Umm Assad. Immer mehr Syrer konkurrieren mit ihren jordanischen Gastgebern um Jobangebote.

Vor dem syrischen Bürgerkrieg lebten 60.000 Einwohner in Mafraq, heute zählt der Ort Schätzungen zufolge 75.000 Menschen. Wie Mafraq geht es vielen jordanischen Städten: Zwei Drittel aller nach Jordanien geflohenen Syrer leben in Städten. Jene, die die Mittel dazu haben, verlassen das nahe gelegene Flüchtlingscamp Zaatri, um in Mafraq Job und Wohnung zu finden – durch die Verknappung des Wohnraums explodieren die Mietpreise. Auch Siham Umm Assads Familie wurde von ihrem Vermieter bereits aufgefordert, die Wohnung zu räumen. Er will sie stattdessen an Syrer vermieten, die besser zahlen. "Alle Preise sind gestiegen", klagt sie, während ihre Kinder im engen Wohnzimmer am Boden hocken. Ihre Wohnung will die Frau Mitte 30 ohnehin immer seltener verlassen. "Die Kriminalität ist gestiegen, ich fühle mich immer unsicher, wenn ich das Haus verlasse."

Am Limit

General Hussein Majali, Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, weiß um die Probleme seiner Landsleute. In seinem frisch bezogenen Büro in Amman liegt noch eine feine Schicht Baustaub auf einigen Möbeln, als er eine Gruppe europäischer Journalisten empfängt. In seiner mit zahlreichen Auszeichnungen versehenen blauen Uniform eilt der stämmige Spitzenbeamte dieser Tage von Sitzung zu Sitzung, um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen. "Jedes Problem dieser Krise, sei es ökonomischer oder sozialer Natur, ist letztlich auch ein Sicherheitsproblem", sagt der General. Seine dem jordanischen Innenministerium unterstehende Behörde kämpft mit immer mehr Flüchtlingen, einem Anstieg der Kriminalität und einer kritischen Situation an den Grenzen. Das Wort Flüchtling kommt dem General dabei selten über die Lippen, arabische Gastfreundschaft verpflichtet: "Neben den über sechs Millionen Einwohnern haben wir Gäste aus dem Irak, Syrien, Ägypten – jedes Problem dieser Welt scheint hierher zu kommen."

Mittlerweile patrouillieren nicht mehr Majalis Beamte entlang der Grenze, sondern Soldaten der Armee. Doch Majali schränkt ein: "Es gibt keine Grenze auf der Welt, die undurchdringbar ist." Der Generaldirektor warnt vor einem Überschwappen von Waffen, Extremisten oder chemischen Kampfstoffen aus Syrien nach Jordanien. "Sie sollten nicht vergessen, dass Jordanien ein kleines Land mit minimalen Ressourcen ist, und wir sind stolz darauf, eine Oase der Stabilität zu sein. Aber es gibt eine Grenze bei dem, was man machen kann. Die neuen Flüchtlinge kommen in einem viel höheren Tempo, als wir Kapazitäten aufbauen können, um diese zu versorgen."

Die Flüchtlingszahlen, die Majali von einem Blatt Papier vorliest, steigen von Tag zu Tag. Vergangene Woche flüchteten mehr als 15.000 Menschen ins Königreich. In den Schubladen der Vereinten Nationen liegen noch viel beängstigendere Zahlen. Bei einer Eskalation der Kämpfe rechnen die UNO-Beamten mit 100.000 Flüchtlingen, die nach Jordanien fliehen könnten – pro Woche. (Stefan Binder, derStandard.at, 14.3.2013)