"Was ist Geschichte?", fragte der bedeutende britische Historiker E. H. Carr in einem Vortrag, gehalten 1961 an der Universität von Cambridge, und antwortete kurz und bündig: "Ein Dialog ohne Ende zwischen Gegenwart und Vergangenheit." Wenn man den Umgang mit dem entscheidenden und umstrittensten Teil der jüngeren österreichischen Geschichte, nämlich mit dem sogenannten "Anschluss" Österreichs an Hitler-Deutschland, heute im Vergleich zu 1988 betrachtet, sieht man erst den früher kaum vorstellbaren Wandel in den Rahmenbedingungen dieses Dialogs.

Die eindrucksvolle Ausstellung "Nacht über Österreich. Der Anschluss 1938 - Flucht und Vertreibung" in der Österreichischen Nationalbibliothek beweist die Entschlossenheit, das so lange tabuisierte und bis heute traumatische Thema sachlich und objektiv aufzuarbeiten. Im Vorwort zu dem informativen Katalog betont Generaldirektorin Johanna Rachinger zu Recht: "Vor allem der überstrapazierte, als bequeme Entschuldigung vorgeschobene Opfermythos, der Österreich einseitig als unschuldiges Opfer von Hitlers Expansionspolitik darzustellen versuchte, war es, der einer ernsthaften wissenschaftlichen - aber auch moralischen - Aufarbeitung dieser Epoche lange Zeit im Wege stand."

Es geht aber nicht nur um eine Ausstellung, sondern um die gesamte kritische Selbstwahrnehmung in Österreich. Im Gegensatz zur häufigen pauschalen Österreich-Verachtung werden jetzt auch in den europäischen Qualitätszeitungen die politischen und medialen Bemühungen um die Identitätsfindung und das Selbstverständnis der Zweiten Republik gewürdigt. Nie zuvor haben sich die österreichischen Zeitungen und die elektronischen Medien so ausführlich ohne Rücksichten und Vorbehalte mit dem "Hexensabbat des Pöbels und dem Begräbnis aller menschlichen Werte" (Carl Zuckmayer) im März 1938, mit den Terroraktionen vor allem gegen die Juden und die politischen Gegner beschäftigt. Endlich wird auch die Säuberung und Gleichschaltung der Universitäten, der Akademie der Wissenschaften und Wiener Philharmoniker ohne Verdrängung und Beschönigung beschrieben.

Die herausragenden Journalisten der jüngeren Generation lehnen "das Bild des vermeintlich harmlosen, für nichts und niemanden verantwortlichen Österreich" (Rainer Nowak in der "Presse") unwiderruflich ab. Die modernisierten und auf den letzten Stand der Forschung gebrachten Österreich I-Dokumentationen im ORF von Hugo Portisch sind mehr denn je von grundsätzlicher Bedeutung. In seinen Büchern, Reden und Interviews wirkt auch Bundespräsident Heinz Fischer unermüdlich für Aufklärung und für historische Wahrheit bezüglich Täter und Opfer.

"Die gehsteigputzenden Juden, die rauchenden Verbrennungsöfen in den Konzentrationslagern, der rassistisch motivierte Vernichtungskrieg sind kein Fall für das Geschichtsbuch. Sie gehören für immer in unserem nationalen Gedächtnis verankert", schrieb Andreas Koller in einem bemerkenswerten Leitartikel in den Salzburger Nachrichten. Gilt aber das, was man den Österreichern 1938 ankreidete, nicht auch für die Übergriffe und Raubzüge bei jüdischen Nachbarn in Ungarn, Kroatien oder der Slowakei? Im ganzen Mittel- und Osteuropa müsste diese dunkle Epoche offen und objektiv thematisiert werden. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 12.3.2013)