Vom Krucken- zum Hakenkreuz: "Der Bauernbündler" vom 10. März 1938, zensierte "Reichspost" und "Vorarlberger Tagblatt" vom 12. März 1938.

Scans: ÖNB, Projekt "Anno"

Nur "Ja"-Stimmzettel: "Linzer Volksblatt" vom 10. März 1938.

Scan: ÖNB, Projekt "Anno"

Es war eine Verzweiflungstat. Vor genau 75 Jahren, am 9. März 1938, nahm Kurt Schuschnigg um 8.10 Uhr den Zug nach Innsbruck. Er hatte bereits am Tag zuvor bekanntgegeben, um 19 Uhr bei einer Veranstaltung der Vaterländischen Front im großen Stadtsaal eine wichtige Erklärung abgeben zu wollen. Das tat er auch: Der Ständestaat-Kanzler und Führer der Vaterländischen Front, kurz "Frontführer", kündigte an, dass bereits vier Tage später, am 13. März, einem Sonntag, eine Volksbefragung zur Unabhängigkeit Österreichs durchgeführt werde.

Schuschnigg zitierte zwar Andreas Hofer ("Mander, es ischt Zeit!") und erntete laut Zeitungsberichten "stürmischen Beifall". Doch die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der "Anschluss" ans Deutsche Reich ließen sich zu dem Zeitpunkt nicht mehr aufhalten. Denn Schuschnigg hatte Adolf Hitler gegenüber, seit fünf Jahren Reichskanzler, zu viele Zugeständnisse gemacht oder machen müssen, zuletzt am 12. Februar mit der Unterzeichnung des "Berchtesgadener Abkommens". Seit 16. Februar gab es eine Regierungsbeteiligung der zuvor illegalen Nationalsozialisten, als Innenminister kontrollierte das NSDAP-Mitglied Arthur Seyß-Inquart die Polizei.

"Heil Schuschnigg!"

Die von Schuschnigg ausgegebene Parole lautete: "Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, ein christliches und einiges Österreich! Für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen." Man möge, so der Aufruf, aufstehen "wie ein Mann" und mit "Ja" stimmen: "Front Heil! Österreich!"

Schuschnigg konnte mit breiter Unterstützung rechnen - u. a. auch durch Kommunisten und Sozialisten. Die Jüdische Presse mahnte in der Ausgabe vom 11. März: "Dass die Juden Österreichs vollzählig zur Abstimmung erscheinen sollen, bedarf keiner besonderen Aufforderung. Sie wissen, was diese zu bedeuten hat. Jeder erfülle daher seine Pflicht!"

Und die Österreichische Arbeiter-Zeitung beklagte noch in der Ausgabe vom 12. März, dass der Nationalsozialismus mit Fackelzügen, Unterschriftensammlungen, Hakenkreuzen im Straßenbild Auferstehung feierte. Die Abstimmung sei "die Stunde der Arbeiterschaft", so der Aufmachertitel, und daneben der Aufruf: "Jeder Arbeiter bekennt sich zu Österreich!" Eingelegt war ein Blatt der Vaterländischen Front: "Frei und treu! Heil Schuschnigg!" Dass diese Ausgabe überhaupt noch erschienen war, verwundert. Denn am 12. März hatten die Nationalsozialisten faktisch die Macht übernommen.

Am 10. März war noch alles ruhig. Schuschnigg traf in der Früh am Westbahnhof ein. Er wurde, so die Wiener Zeitung, von einer "ungemein großen Menschenmenge" begrüßt. Ein paar Seiten weiter war u. a. zu lesen, dass Walpurga Sabati beim Schneeglöckchenpflücken ertrunken war.

Die Volksbefragung aber hatte Hitler längst zum Kochen gebracht: Der Führer drohte mit der Mobilmachung der 8. Armee und wies Seyß-Inquart an, ein Ultimatum zu stellen; die Abstimmung sei zu verschieben. Sogleich hieß es, Schuschnigg werde sich beugen. Doch das Amt des Frontführers ließ über die Wiener Zeitung vom 11. März verlautbaren, dass alle Gerüchte unzutreffend seien. Und, weil es ursprünglich nur Stimmzettel mit "Ja" geben wollte: "Es besteht selbstverständlich die Möglichkeit vollkommen freier, geheimer Stimmabgabe für jedermann. Auch Stimmzettel mit dem Aufdruck ,Nein' werden zur Verfügung stehen."

An jenem 11. März wurde der Druck auf Schuschnigg massiv erhöht. Im Kanzleramt spielten sich dramatische Szenen ab. Am Nachmittag wurde, wie die Reichspost am 12. März berichtete, "das ultimative Begehren der Deutschen Reichsregierung, es sei die Volksbefragung aufzuschieben, die Regierung Schuschnigg zu entlassen und eine Regierung Seyß-Inquart einzusetzen", überbracht. Diesem folgte ein zweites, auf 19.30 Uhr befristetes Ultimatum im Auftrag von Hermann Göring: Bei Nichtentsprechen würden um 20 Uhr 200.000 Mann deutscher Truppen die Grenze überschreiten.

"Wir weichen der Gewalt"

Bundespräsident Wilhelm Miklas, eigentlich kein mutiger Mann, wies die Forderungen zunächst zurück. Um 18.15 Uhr meldete Radio Wien, dass Schuschnigg die Volksbefragung verschoben habe. Und um 19.45 gab der Kanzler seinen Rücktritt bekannt: "Der Herr Bundespräsident beauftragt mich, dem österreichischen Volk mitzuteilen, dass wir der Gewalt weichen." Seine Rundfunkansprache beendete er mit dem Wunsch "Gott schütze Österreich!"

Die Reichspost brachte in der Ausgabe vom 12. März aber nicht nur einen Einspalter "zur Vorgeschichte des Demissionsangebotes", sondern auch einen erstaunlich kritischen Bericht über die Ereignisse jener Nacht der Machtergreifung: dass die Nationalsozialisten vom Wiener Bürgermeister Richard Schmitz verlangten, die mitgebrachte Hakenkreuzfahne zu hissen; dass dieser sich weigerte, die Waffen der Rathauswache auszufolgen. Dass der Landesstatthalter von Tirol in Schutzhaft genommen wurde; dass die Nationalsozialisten das "Fronthaus", das Haus der Vaterländischen Front, stürmten und das Kruckenkreuz zertrümmerten; dass im Laufe des Abends " die Auslagen einiger jüdischer Geschäfte demoliert" wurden, darunter jene des Papierwarenhauses Sonnenschein in der Strauchgasse.

Der Blattaufmacher "Rücktritt der Regierung Schuschnigg" aber wurde zensiert: Die Seite 1 dominiert eine halbseitige weiße Fläche. Die Ausgabe vom 12. März war, nicht weiter verwunderlich, die letzte der Reichspost mit dem Untertitel "Unabhängiges Tagblatt für das christliche Volk".

Das Vorarlberger Tagblatt hingegen hatte bereits für die Ausgabe vom 12. März ganze Arbeit geleistet: Das Hakenkreuz ziert die Titelage; der Aufmacher lautet "Der Sieg des Nationalsozialismus in Österreich"; als Zwischentitel wird die Parole "Ein Volk, ein Reich, ein Führer!" skandiert, auf Seite 3 ist das Loblied von Ottokar Kernstock auf Das Hakenkreuz abgedruckt. Und man berichtet über eine "unglaubliche Provokation in Wien": dass Demonstranten die Hakenkreuzwimpel von einem Kraftwagen herunterrissen und "im Straßenschmutz zertraten".

Am 11. März um 20.45 Uhr gab Hitler den Einmarschbefehl, Seyß-Inquart wurde schließlich doch von Miklas mit den Regierungsgeschäften betraut: Das neue Kabinett stand binnen Kürze. In Wien spielte sich Unglaubliches ab. Die "Nazis" rotteten sich zu Jubelmärschen zusammen, der Mob drang in jüdische Wohnungen ein, zerstörte Einrichtungen und stahl, was greifbar war. Die Hellsichtigsten flohen nach Ungarn. Oder sie nahmen den Arlberg-Express in die Schweiz. Das Bundeskanzleramt in Wien, wo Bundespräsident Miklas amtierte, wurde - angeblich zu seinem Schutz - von Bewaffneten umstellt.

In jener Nacht und am 12. März setzten die "Nazis" in vielen Ämtern, Institutionen, Vereinen und Museen die leitenden Personen ab, obwohl es (noch) keine legistische Grundlage gab. In der Akademie der bildenden Künste zum Beispiel übernahm ein Triumvirat das Rektorat; in vorauseilendem Gehorsam wurden Clemens Holzmeister, Karl Sterrer und viele andere ihrer Pflichten enthoben.

Um 4.30 Uhr des 12. März landete Reichsführer-SS Heinrich Himmler auf dem Flugfeld Aspern, um die "Säuberung" der Polizei und die ersten Verhaftungen (u. a. von Leopold Figl, Franz Olah etc.) zu organisieren. Wenig später nahm die SS eben dort Louis Rothschild, der nach Italien fliehen wollte, den Pass ab. 200 Flugzeuge der Deutschen Luftwaffe warfen über den Städten 300 Millionen Flugzettel ab.

"Heil Hitler!"

Gegen 8 Uhr überschritt die 8. Armee die Grenze. Sie wurde vielfach mit Jubel empfangen. Um 12 Uhr verlas Joseph Goebbels im Rundfunk die Proklamation des Führers. Adolf Hitler ätzte über Schuschniggs Volksbefragung ohne Wählerlisten: "Gegen diesen einzig dastehenden Versuch eines Wahlbetruges" habe sich "das deutsche Volk in Österreich selbst erhoben"; und er, Hitler, stelle die "Hilfe des Reiches" zur Verfügung. Unter Glockengeläut überschritt der Reichskanzler gegen 15.50 Uhr bei Braunau die Grenze, um 19.30 traf er im Linzer Rathaus ein. Er wurde mit "Sieg Heil!"-Rufen empfangen.

Am 13. März 1938 wurde der "Anschluss" staatsrechtlich vollzogen. Seyß-Inquart und Hitler vereinbarten das Gesetz über die " Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich". Miklas trat zurück, da er das Gesetz nicht beurkunden wollte. Seine Funktionen gingen damit auf Bundeskanzler Seyß-Inquart über. Mit dessen Unterschrift hörte der Staat Österreich zu bestehen auf. (Thomas Trenkler/DER STANDARD, 9./10. 3. 2013)