Die australische Frauenärztin Catherine Hamlin (li.) mit ihrer Patientin Daratu, die geheilt in ihr Dorf zurückkehren konnte.

Foto: Philipp Hedemann

Zwei Tage lang presste Daratus ungeborener Sohn gegen ihr Becken. Immer wieder raubten die Schmerzen der jungen Frau das Bewusstsein. Plötzlich drängte zwar nichts mehr, doch die Schmerzen blieben. Völlig entkräftet brachte die 20-jährige Äthiopierin Tage später ihr Kind zur Welt. Tot. Daratu hatte nicht nur ihr Baby verloren, sondern auch ihre Würde.

Denn die tagelangen Wehen hatten eine Wunde zwischen ihre Blase und ihre Vagina gerissen, die sie inkontinent und so zur verstoßenen Aussätzigen machte. Die 89-jährige Gynäkologin und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Catherine Hamlin gab ihr jetzt in der einzigen Fistula Klinik der Welt in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba ihren Stolz zurück.

Mann wollte unbedingt Sohn

Daratu war noch klein, als ihre Familie bestimmte, dass der viel ältere Omer ihr Mann werden sollte. Kurz nachdem die zierliche Daratu das erste Mal ihre Menstruation bekommen hatte, wollte Omer einen Sohn. Doch Daratu und ihr Körper waren noch nicht bereit. Das Mädchen, das nie zur Schule ging und nicht weiß, wie man sich vor ungewollten Schwangerschaften schützt, verlor ihren ersten Sohn. Bald war sie wieder schwanger.

Als sie das zweite Mal in ihrem Leben ohne Hilfe eines Arztes oder einer Hebamme auf dem festgestampften Lehmboden der Hütte ihrer Eltern ein Kind zur Welt bringen wollte, drückte der Kopf ihres Babys ihre Organe so lange und so heftig gegen ihre Becken, dass das zwischen Baby und Knochen eingeklemmte Gewebe nicht mehr durchblutet wurde und abstarb. Es blieb eine Öffnung, aus der unkontrolliert Urin austrat.

Totale Isolation als Folge

Daratu dachte, sie sei die einzige, die Allah mit dem Tod ihrer beiden Kinder und der schrecklichen Verletzung strafen wollte. Doch sie ist eine von weltweit schätzungsweise zwei Millionen Frauen in Entwicklungsländern, die unter sogenannten Geburtsfisteln leiden. Allein in Äthiopien kommen jedes Jahr rund 9.000 Frauen und Mädchen hinzu. "Auch in Europa und Amerika waren Fisteln früher häufig. Seit der Einführung des Kaiserschnittes sind sie dort jedoch ausgestorben", sagt Catherine Hamlin.

"Ich habe mich nach der zweiten Totgeburt nicht mehr getraut, meinem Mann unter die Augen zu treten. Ständig lief mir etwas am Bein runter. Ich habe schrecklich gestunken und mich so geschämt", erzählt Daratu. In einer kleinen Hütte versteckte sie sich vor ihrem Mann und der Welt. Nur wenn sie den Durst nicht mehr aushalten konnte, trank sie einen kleinen Schluck, doch selbst das bisschen Wasser konnte sie nicht halten.

Auf der winzigen Farm ihrer Eltern konnte sie wegen ihrer Inkontinenz nach der zweiten Totgeburt nicht mehr mitarbeiten. Doch in ihrem Dorf wird der Wert einer Frau immer noch an der Zahl der Kinder, die sie ihrem Mann schenkt, und an ihrer Tüchtigkeit auf dem Feld gemessen. Daratu hatte das Gefühl, versagt zu haben.

Sterben als Hoffnung

"Ich dachte, dass ich den Rest meines Lebens alleine verbringen müsste und irgendwann an meinen Verletzungen sterben würde. Ich hoffte, dass es möglichst schnell passieren würde", erzählt Daratu. Sie wusste nicht, dass sie mit einem einfachen Eingriff geheilt werden konnte. Daratus Vater hatte, sieben Monate nachdem seine Tochter seinen zweiten Enkel verloren hatte, von der Fistula Klinik im knapp 200 Kilometer entfernten Addis Abeba erfahren.

Daratu zog sich alle Hosen an, die sie auftreiben konnte, verbarg den bald durchnässten Stoff unter einem weiten Rock und setzte sich mit ihrem Vater in einen Bus in die Hauptstadt. Einen Monat nachdem er sie abgeliefert hat, kann Daratus Vater seine Tochter nun wieder abholen. Sie ist geheilt.

Kinderkriegen möglich

"Ich habe sie selbst operiert. Sie wird sogar noch Kinder kriegen können. Allerdings per Kaiserschnitt", sagt Catherine Hamlin und nimmt ihre fast 70 Jahre jüngere Patientin fest in den Arm. Die kleine Daratu strahlt die hagere und hochgewachsene Ärztin an und sagt "Danke, Mama". Viele Patientinnen im 140-Betten-Krankenhaus nennen die Gründerin des Hospitals "Mama". Zwei Silben voller Dankbarkeit und Respekt vor der alten Dame.

Die Gynäkologin war 1959 mit ihrem Mann, dem Frauenarzt Reginald Hamlin, nach Addis Abeba gekommen. In der äthiopischen Hauptstadt sollten die beiden im Auftrag der Regierung Haile Selassies eine Hebammenschule aufbauen. Eigentlich wollte das Ärzte-Paar nur drei Jahre bleiben, mittlerweile lebt Catherine Hamlin seit 54 Jahren in einem der ärmsten Länder der Welt. 1974 gründete sie mit ihrem Mann das Fistula Hospital.

Keine Flucht während des Bürgerkrieges

Auch als während des Bürgerkrieges in den 1980er und 1990er Jahren Granaten auf dem Gelände des Krankenhauses einschlugen, blieb die mutige Ärztin: "Hätten wir uns feige aus dem Staub machen und unsere Patientinnen im Stich lassen sollen. Wer hätte sich denn um sie gekümmert", fragt die Ärztin, deren Mann bereits vor zwanzig Jahren verstorben ist.

In Äthiopien bringen Frauen im Durchschnitt fünf bis sechs Kinder zur Welt. Nach Angaben des Fistula Krankenhauses gibt es im ganzen Land mit seinen geschätzten 90 Millionen Einwohnern 163 Frauenärzte und 1509 Hebammen, von denen die meisten in Städten arbeiten. Nur etwas mehr als ein Zehntel der Frauen bringt ihre Kinder mit fachkundiger Hilfe zur Welt. Bei der armen ländlichen Bevölkerung sind es weniger als ein Prozent.

Zwei Tagesmärsche zur nächsten Klinik

Die Patientinnen der Fistula Klinik berichten, dass die nächste Gesundheitsstation im Durchschnitt zwei Tagesmärsche von ihrem Dorf entfernt ist. Auch weil viele der oft noch minderjährigen, unterernährten und kleinwüchsigen Schwangeren nie bei einer Vorsorgeuntersuchung waren, kommt es zu bei der Geburt oft zu Komplikationen. Um dann noch Hilfe zu holen, ist es meist zu spät, Geburtsfisteln sind häufig die Folge.

Über 30.000 Frauen wurden bereits im Fistula Hospital operiert. Die Heilungsrate liegt bei über 90 Prozent. "Bevor sie zu uns kamen, dachten viele Frauen, dass sie die einzigen seien, die von Gott mit dieser schrecklichen Verletzung gestraft seien. Hier können wir ihnen klar machen, dass es die Verletzung keine Strafe Gottes ist und dass sie nicht alleine sind. Das gibt ihnen neues Selbstvertrauen", sagt Catherine Hamlin.

Kostenlose Behandlung

Das ausschließlich durch Spenden finanzierte Krankenhaus behandelt alle Patientinnen kostenlos. "Statt einer Bezahlung erwarten wir von den Frauen nur, dass sie unsere Botschafterinnen werden. Sie sollen in ihren Dörfern erzählen, dass keine Frau ihr Baby ohne professionelle Hilfe zur Welt bringen soll und das Geburtsfisteln mit einer einfachen Operation geschlossen werden können", sagt die Gründerin des Krankenhauses.

Für ihr Lebenswerk wurde die australische Ärztin, die schon Gast bei Talk-Königin Oprah Winfrey war, mit Auszeichnungen überhäuft. 1999 war sie für den Friedens-Nobel-Preis nominiert, zehn Jahre später erhielt sie den Alternativen Nobelpreis. Wenn man sie fragt, was die vielen Ehrungen ihr bedeuten, sagt sie: "Nichts. Überhaupt nichts. Nur der Humanitäts-Preis, den Haile Selassie, der letzte Kaiser Äthiopiens, mir und meinem Mann 1971 verlieh, der ist mir lieb und teuer."

Wie eine Lepra-Kranke im Mittelalter

Ihre Patientinnen und Mitarbeiter beten täglich, dass die asketische Ärztin, die mittlerweile im Sitzen operiert und sich bei der täglichen Visite auf einen Stock stützen muss, die anstrengende Arbeit noch lange machen kann. Kraft schöpft die 89-Jährige vor allem durch das Lächeln der geheilten Frauen, die nach dem Eingriff wieder in ihre Dörfer zurückkehren können.

"Eine Patientin wog bei ihrer Einlieferung nur noch 32 Kilo. Sieben Jahre lebte sie wie eine Lepra-Kranke im Mittelalter. Von allen verstoßen. Eine andere Patientin versteckte sich 50 Jahre auf dem Grundstück einer Kirche, bevor ein Priester die völlig verängstigte Frau zu uns brachte. Wir konnten sie beide heilen", erzählt die Ärztin, die bei schwierigen Operationen oft betet. Eine Patientin, die nach 36 Jahren überflüssigen Leidens wieder in Würde leben konnte, sagte nach der Operation zu Hamlin: "Heute geht für mich erstmals seit vielen, vielen Jahren wieder die Sonne auf."

"Ich habe die Vision, dass am Ende dieses Jahrhunderts Geburtsfisteln endlich auch in Afrika der Vergangenheit angehören", sagt Hamlin. Daratu, die am nächsten Tag von ihrem Vater abgeholt wird, will dazu beitragen. Sie will dafür sorgen, dass keine Frau aus ihrem Dorf  versucht, ohne ärztliche Hilfe ein Kind zur Welt zu bringen. Denn den anderen soll Daratus Leid erspart bleiben. (Philipp Hedemann, DER STANDARD, 8.3.2013)