Lissabon ist Westeuropas letzter Rückzugsort für Nostalgiker. Portugals Hauptstadt hat sich in den vergangenen Jahrzehnten kaum verändert, zumindest nicht in den zentralen Stadtteilen Chiado, Bairro Alto, Baixa oder Alfama. Zum Glück. Kaum Spuren von Globalisierung, nicht überall die gleichen Geschäfte und gleichen Outfits der Passanten. Kaum betritt man das Kopfsteinpflaster, spürt man den Puls der Stadt: Er schlägt langsam. Lissabon ist aber kein Dornröschen, das am Rande Europas schläft und darauf wartet, von Touristen wachgeküsst zu werden. Die Stadt tut nur so, als schliefe sie. Dabei lässt sie sich bewundern, von vier Millionen Besuchern jährlich.
Wer die Schöne verstehen will - nach ein paar Tagen der Schwärmerei vielleicht -, sollte das neue Lisboa Story Centre am zentralen Praça do Comercio besuchen. Ein großer schwarzer Rabe aus Metall, das Wappentier von Lissabon, weist den Weg über den 180 mal 200 Meter großen Platz. Unter den Arkaden liegt der Eingang zu einem interaktiven Besucherzentrum, das vor wenigen Monaten eröffnet wurde. Es nennt sich Lisboa Story Centre - Memórias da Cidade, ist also ein Geschichten-Zentrum von Lissabon für Erinnerungen aus dieser Stadt. Das Rathaus hat es 2010 bei den britischen Museumsdesignern Haley Sharp in Auftrag gegeben und trotz Wirtschaftskrise flott umgesetzt.
Mosaik aus Dramen und Ruhm
Das museal wirkende Wort History, Geschichte, taucht dabei nirgends auf. Der Name zeugt von einem modernen Umgang mit der Vergangenheit. Erzählt werden "Dramen von Leidenschaft und Ruhm", wie der deutschsprachige Audioguide am Anfang verspricht. Der einstündige Rundgang hält dieses Versprechen. Er bietet ein Mosaik, das von den Phöniziern bis zur Nelkenrevolution 1974 reicht: Mythen zur Stadtgründung, Geschichten von Eroberung und Besiedlung, von Kolonialhandel und bürgerlichem Reichtum werden erzählt.
Das Schicksal von Seefahrern und Königen, die Stadtentwicklung und als zentrales Element das große Erdbeben von 1755 werden auf plakative Weise geschildert: Ein Tsunami, ein Erdbeben und ein Großbrand suchten die Stadt an einem Allerheiligentag vor 258 Jahren heim und zerstörten zwei Drittel der damaligen Stadt. Die Naturkatastrophe wurde europaweit als größte Tragödie in der Geschichte des Kontinents wahrgenommen. Sie löste sogar theologisch-philosophische Diskussionen darüber aus, ob es Gottes Strafe tatsächlich gebe.
Danach wandelte sich Lissabon zur modernsten Metropole Europas, dank einer neuen, erdbebensicheren Bauweise und der bürgerfreundlichen Stadtplanung: breite Gehsteige, Straßenbeleuchtung, Kanalisation, große Häuserblocks. Doch die Einwohner beklagten sich über die langen Distanzen, die sie nun täglich zu Fuß zurücklegen mussten. Erst allmählich gewöhnten sie sich an die neue Weitläufigkeit.
Die Stadt zehrt bis heute von den eleganten Gebäuden in erdbebensicherer Käfigbauweise, den Casas Pombalinas, genannt nach dem Minister Marquês de Pombal. Der trieb im 18. Jahrhundert nach dem Motto "Beerdigt die Toten, versorgt die Lebenden" nicht nur den Wiederaufbau voran, sondern setzte auch Reformen durch. Die mehrstöckigen Häuser prägen bis heute das elegante Zentrum, die Baixa. Es ist eines der teuersten Pflaster der Altstadt. Wer die Häuser auch von innen bewundern will, kann das etwa in einem der zwölf Apartments des Gebäudes an der Rua dos Fanqueiros 81 tun. Dort sind moderne, große Ferienwohnungen untergebracht, die sich gut als Standort für den Stadturlaub eignen.
Klein, wendig, mächtig
Schon vor dem Erdbeben waren viele Portugiesen einfallsreich, und im Lisboa Story Centre kann man die Ergebnisse kennenlernen: Erfindungen wie die Karavelle, ein wendiges Schiff, das seitlich zum Wind segeln konnte, oder die Passarola, das erste taugliche Fluggerät der Menschheit. Der Eindruck von Kraft und Größe wird hier aber auch unumwunden demonstriert: Portugal führte immer wieder Krieg gegen Spanien, den ewigen Feind. Die iberische Halbinsel wurde schließlich in zwei Königreiche aufgeteilt, und im Jahr 1494 folgte sogar die Aufteilung der Welt in zwei Hemisphären: eine für die Spanier, die andere für die Portugiesen. Was für ein kleines, mächtiges Land!
Kein Wunder, dass bei vielen Lissabonnern, deren Land nun am EU-Tropf hängt, nostalgische Gefühle wachsen. Das heutige Motto der Stadt lautet an vielen Orten: "Früher war alles besser." Detailverliebte Altbausanierung, Bars mit Gustostückerln von hochwertigen heimischen Fischkonserven, Restaurants, die Petiscos, hausgemachte kleine Portionen servieren - all das bezeugt diesen Retrotrend. Die Preise sind günstig, manchmal sogar unschlagbar billig: Sie entsprechen der schwindenden Kaufkraft der Portugiesen.
Die angebotene Ware ist wieder häufig "feito em Portugal", in Portugal hergestellt, oder sie kommt aus den alten Kolonien. Kaffee der Marke Delta zum Beispiel stammt von brasilianischen Bohnen und ist fast ein Nationalheiligtum - lokale Journalisten haben ihn jüngst unter den tausend Dingen, die Portugal lebenswert machen, ganz weit oben gereiht.
Catarina Portas, eine ehemalige Journalistin, hat diesen Trend zur neuen Nationalromantik in ihrer Greißlerei A vida portuguesa - das portugiesische Leben - umgesetzt. Rasierschaum, Lederpolitur, Brausepulver, Wolldecken, verpackt in Formen, Farben und Typografien der 1940er- bis 1970er-Jahre, erinnern an Zeiten, die heute als gut abgespeichert sind. Tatsächlich gehören dazu natürlich auch die knapp vier Jahrzehnte der Salazar-Diktatur.
Trends in kleinen Dosen
In der kleinen Bar Sol e Pesca bekommt man eine dicke Scheibe gekochter Süßkartoffel mit Knoblauch und Ölsardinenfilet oben drauf oder ein Stück Tunfischschinken mit kandierten Feigen und Minzblatt. Dazu einen kräftigen Rotwein. Die kleinen Gerichte setzen längst Trends. Sie kosten zwischen vier und sechs Euro und verführen dreimal: Weil sie schön zubereitet, weil sie schmackhaft und weil sie portugiesisch sind. In der Bar, die früher ein Anglergeschäft war und noch immer so aussieht, herrscht von Mittag bis zum Morgengrauen Hochbetrieb.
Auf derselben Welle reitet die Fischkonservenfabrik A Conserveira de Lisboa, die nicht weit vom Lisboa Story Center Köstlichkeiten in Weißblech verkauft, natürlich in einem blau-weiß gekachelten Geschäft mit Holztüren. Neuerdings gibt es dort auch Fado-Konzerte, also zumindest die Musik kommt nicht aus Dosen.
Das Restaurant A Palmeira ist dagegen definitiv keiner dieser Retroschuppen. Es ist echt altmodisch. Kellner in blauen Synthetikpullis stellen kleine Teller mit Stockfischbällchen oder Schalen mit dampfender grüner Suppe auf die Kunststofftische. Die Gäste bestellen dazu Tremoços, in Salzlauge eingelegte Bohnen, und portugiesisches Bier. Sie schwatzen knabbernd und trinken ohne Hast unter Neonbeleuchtung, so wie es schon ihre Eltern getan haben.
Auf die meisten Besucher wirkt diese rückwärtsgewandte Melancholie freilich charmant. Aber sie zeugt auch von Resignation. Denn manche Lissabonner verklären bereits die Zeit vor dem EU-Beitritt, als das Land quasi ein Selbstversorgerdasein führte. In dieser Haltung fließen Trotz und Stilbewusstsein zusammen. Doch bestimmt ist die Schöne am Tejo mehr denn je ein Mahnmal für Gelassenheit in einem kontinentalen Stimmungstief. Bei Sonnenschein sei die Stadt verführerisch schön, bei Regen wirke sie unheimlich, sagen die Einheimischen. (Brigitte Kramer, DER STANDARD, Album, 2.3.2013)