Beppe Grillo, Gesicht der Movimento 5 Stelle (M5S), wird nicht nur von europäischen politischen Eliten (siehe Peer Steinbrück), sondern auch von den Mainstream-Medien gern auf einen "Clown" oder Populisten reduziert - und seine Anhänger/innen auf willenlose und programmlose Protestwähler. Diese Darstellung reiht sich in die verzerrte Berichterstattung über neue progressive politische Kräfte im Süden Europas ein. Es ist zugleich symptomatisch dafür, wie wenig klassische Medien mit ihrem Fokus auf Machtpolitik und wirtschaftliche Eliten jene soziale Bewegungen, die nicht durch ihre Kanäle hindurch wirken, verstehen. Mehr als 8,6 Millionen italienische Bürgerinnen und Bürger haben M5S ihre Stimme gegeben. Warum?

Zunächst hat die demokratische Partei seit dem Amtsantritt der Technokratenregierung Monti jedes Kürzungsprogramm inklusive den Fiskalpakt kritiklos abgenickt, ebenso die Partei Berlusconis. Trotz des 30-Prozent-Stimmanteils hat auch der "Cavaliere" real massiv an Stimmen verloren. Eine ernsthafte und kritische Auseinandersetzung mit den konkreten Problemen der Menschen findet kaum statt - die Anerkennung der immer offensichtlicheren Grenzen der Natur und der ökologischen Probleme ist für das Establishment kein Thema, ihr Programm stattdessen ist die Umsetzung der EU-Kürzungsvorgaben und die Ankurbelung des Wirtschaftswachstums.

M5S - das sind Bürger/innen, die nicht länger hinnehmen wollen, dass eine großteils korrupte politische Klasse sich auf ihre Kosten bereichert und zugleich das Geld für die öffentliche Schule oder die Gesundheitsversorgung gestrichen wird, die Jugendarbeitslosigkeit drastische Höhen erreicht und die einzige Antwort der etablierten Parteien die strikte und kritiklose Umsetzung der europaweit verordneten Kürzungspolitik ist. All das sprechen Beppe Grillo und das M5S an.

Dementsprechend enthält des Programm des M5S (es ist im Internet zu finden) unter anderem Vorschläge, um die politische und wirtschaftliche Korruption zu beenden, die Energiewende zu fördern, öffentliche Schulen und das Gesundheitswesen zu verbessern, die öffentliche Wasserversorgung zu erhalten, den öffentlichen Verkehrs auszubauen, freien Internetzugang für jeden italienischen Bürger zu sichern. MS5 tritt dafür ein, die Eigentumsverhältnisse bei privaten nationalen TV-Stationen zu verändern, um die enorme Machtkonzentration in den Händen Einzelner zu beenden. Auch die Kürzung der zum Teil absurd hohen Gehälter von Politikern und Beamten auf ein durchschnittliches Niveau ist eine Forderung. Das so eingesparte Geld soll etwa in Form eines zeitlich begrenzten Mindesteinkommens ausgezahlt werden.

Neue politische Kultur

Das M5S ist keine klassische Partei, es ist eine Bürgerbewegung, die mit neuen politischen Mobilisierungsformen experimentiert. Das birgt auch Herausforderungen und mitunter Gefahren. Die Wahllisten wurden in einem offenen Prozess mit Internetabstimmung erarbeitet - Voraussetzung für die Kandidatur war unter anderem der Nachweis, weder verurteilt zu sein noch ein laufendes Strafverfahren zu haben. Die Personen, die jetzt für das M5S im Parlament und Senat sitzen, sind No-Names. Es sind Menschen ohne jahrelange "Parteikarriere", junge Menschen und auch viele Frauen.

Die Offenheit der Listenerstellung bedeutet mitunter, dass vielleicht nicht alle von ihnen die Erwartungen, die in sie gesetzt werden, erfüllen können. Viele der Neo-Abgeordneten kennen sich untereinander noch nicht, und Strukturen der internen Zusammenarbeit sind erst zu erarbeiten. Diese Probleme sind Grillo und dem M5S aber auch bewusst und werden auch offen angesprochen. Angesichts dessen, dass (nicht nur) in Italien das Parlament und politische Funktionen zu einem Selbstbedienungsladen für eigene oder Unternehmensinteressen verkommen sind, ist es ein erfrischender und neuer Ansatz, die Machtverhältnisse der herrschenden politischen und wirtschaftlichen Eliten in dieser Form aufzubrechen.

Der Wahlerfolg des M5S ist insofern beachtlich, da der Wahlkampf nicht mit einem millionenschweren Wahlkampfbudget und dem Medium Fernsehen erreicht wurde. M5S hat kein Plakatflächen gekauft. Es gab keinen einzigen Fernsehauftritt Beppe Grillos - nicht im öffentlichen Rai und schon gar nicht in den Privatsendern, die in großer Zahl Berlusconi gehören. Aufbauend auf den Wahlerfolgen bei Gemeinde- und Regionalwahlen des M5S und konkreter politischer Arbeit auf diesen Ebenen, gelang es mit einem Minibudget, dennoch viele Bürger zu erreichen und zu überzeugen. Social Media und die zahlreichen Auftritte Grillos auf den öffentliche Plätzen Italiens sowie die Vernetzung mit sozialen Bewegungen sind die Mobilisierungsformen. Grillo nannte seine Diskussionstour in der Endphase des Wahlkampfs "Tsunami-Tour". Und: die Wahlen wurden tatsächlich zu einem Tsunami für die politische Landschaft Italiens.

Das M5S hat eines seiner ersten Ziele erreicht: die Machtverhältnisse des Landes zu verändern. Die bisherigen politischen und wirtschaftlichen Eliten sehen sich plötzlich einer Bürgerbewegung gegenüber, die ihre Stärke ohne die heute üblichen Machmittel - Geld und Medienpräsenz - aufgebaut hat. Sie bezieht ihre Anziehungskraft aus einer neuen politischen Kultur. Für die Menschen und soziale Bewegungen in anderen europäischen Ländern gilt es, sich mit dem M5S näher zu beschäftigen und auch von dessen neuen Ansätzen zu lernen. (Alexandra Strickner, DER STANDARD, 1.3.2013)