"Wir brauchen intelligente Förderungen" – Felix Matthes

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Oesterreichs Energie: Wie fällt Ihre Bilanz der deutschen Energiewende aus? Umweltminister Peter Altmaier sprach zuletzt von einem "Durchbruch".

Felix Matthes: Die Energiewende hat mehrere Dimensionen: Einerseits hakt es in einer ganzen Reihe von Themengebieten. Andererseits sind wir bei der Energieeffizienz nicht vorangekommen, ebenso bei der Anpassung der Förderung erneuerbarer Energien. Andererseits wurden in einigen Bereichen weitgehend unbemerkt erhebliche Fortschritte gemacht. Einer davon ist die Infrastrukturplanung, wo wir am Ende der ersten Runde eines in Deutschland bisher beispiellosen Prozesses stehen.

Ein Jahr lang wurde nahezu öffentlich eine Netzentwicklungsplanung erarbeitet. Annahmen, Methoden und Ergebnisse wurden umfassend diskutiert. Nun haben wir erstmals einen belastbaren und sehr breit getragenen Ansatz für die Infrastrukturplanung. Das ist ja einer der wesentlichen "Flaschenhälse" der Energiewende. Überdies wurde im Sommer ein durchaus vorbildhaftes Kraft-Wärme-Kopplungs-Gesetz verabschiedet. Die Bilanz über die "Wende" fällt also gemischt aus. Wir sind zu etwa 30 Prozent gut auf dem Weg, aber es bleiben noch 70 Prozent zu bewältigen.

Oesterreichs Energie: Was sind aus Ihrer Sicht die nächsten konkreten Schritte, um die Energiewende voranzutreiben?

Felix Matthes: Erstens ist die Frage der flexiblen Ergänzungskraftwerke zu den erneuerbaren Energien dringend anzugehen. Solche Kraftwerke werden in den nächsten zwei Dekaden noch eine große Rolle spielen. Dabei werden wir nicht umhin kommen, sehr ernsthaft über Kapazitätsmärkte zu diskutieren. Es ist notwendig, nicht nur die Produktion von Kilowattstunden über einen Preis zu honorieren, sondern auch die Bereitstellung von Leistung, also von kW. Oder, elektrizitätswirtschaftlich gesprochen: Leistung muss sich wieder lohnen. Zweitens beginnen die erneuerbaren Energien, das System der Energieversorgung zu prägen. Folglich brauchen wir intelligente Förderungen. Die erneuerbaren Energien fangen nun an, untereinander zu konkurrieren. Dafür müssen wir Lösungen finden. Drittens haben wir einen extrem hohen Nachholbedarf im Bereich der Energieeffizienz.

Die steuerlichen Abschreibungen für thermische Gebäudesanierung sind im Bundesrat im Nirwana verschwunden. Wir haben nichts getan im Bereich der Stromeinsparung. Die vierte große Baustelle ist: wir lernen im Zuge der Energiewende, dass wir Managementsysteme für knappe Ressourcen brauchen. Zwei Beispiele verdeutlichen dies. Eines ist die Konkurrenz um die Nutzung des Untergrundes. So soll der Untergrund für die Geothermie genutzt werden, für Energiespeicher, für Gasförderung, vielleicht auch noch für die CO2- Speicherung. Wir brauchen daher Systeme, mit denen diese unterschiedlichen Ansprüche an die knappe Ressource Untergrund fair gelöst werden können. Das zweite Beispiel ist die Frage der Biomasse. Nachhaltige Biomasse ist eine extrem begrenzte Ressource. Wir müssen uns ein Managementsystem überlegen, mit dem wir ihre langfristige Nutzung kanalisieren.

Der letzte Punkt ist, dass wir am Ende der Übergangsphase der Liberalisierung der Strommärkte sind. Die bisherige Regulierung der Strommärkte hat versucht, die bestehenden Infrastrukturen so weit wie möglich auszunutzen und die Kosten immer weiter zu senken – Stichwort "Anreizregulierung". Diese Regulierung hat keine Antwort auf eine Situation, bei der massiv in Infrastruktur investiert werden muss. Dazu bedarf es einer Veränderung des Regulierungsregimes. Auch das ist eine unbequeme Managementaufgabe.

Oesterreichs Energie: Sie sprachen bereits das deutsche KWK-Gesetz an. Welche Bedeutung hat die Kraft-Wärme-Kopplung für die Energiewende?

Felix Matthes: KWK ist traditionell ein wichtiger Weg zur Energieeinsparung und zur Begrenzung von Erdgasimporten, insbesondere aus Russland, und auch im Bereich des Klimaschutzes. Wir haben in den letzten Jahren die KWK erheblich ausgebaut und damit rund 25 Mio. Tonnen CO2 pro Jahr eingespart. Das ist ein großer Betrag. Im Bereich der Energiewende stellt sich die Frage, wie die KWK als eine sehr effiziente Art von Kraftwerk die erneuerbaren Energien ergänzen kann. Tendenziell sind KWK Anlagen eher unflexibel: Sie produzieren immer dann Strom, wenn auch Bedarf an Wärme besteht.

Es gilt also, die Stromproduktion vom Wärmebedarf zu entkoppeln und damit eine sehr flexible Quelle der Stromerzeugung zu erschließen, die gleichzeitig sehr effizient ist und die das Gegenstück zu den erneuerbaren Energien bilden kann. Das ist der Treiber der neuesten Novelle des deutschen KWK-Gesetzes: Es ging darum, Wärmespeicher zu fördern, um den großen Vorteil der Energieeffizienz mit der neuen Eigenschaft der Flexibilität zu ergänzen.

Oesterreichs Energie: Sie sprachen sich vor kurzem für einen "fokussierten Kapazitätsmarkt" aus und empfahlen eine Zweiteilung künftiger Kapazitätsmärkte in Bestands- und Neubaukraftwerke. Was ist der Sinn dieser Unterscheidung?

Felix Matthes: Der Vorteil dieses Modells ist, dass es für die Kunden billiger wird. Die Alternative zu einem fokussierten Kapazitätsmarkt ist ein umfassender Kapazitätsmarkt. Das heißt, jegliche Kraftwerkskapazität bekommt einen Preis. Spätestens in der Dekade zwischen 2020 und 2030 werden Neubaukraftwerke notwendig. Gibt es dann einen einheitlichen Kapazitätsmarkt, wird der gesamte Kraftwerkspark mit den Kapazitätskosten neuer Kraftwerke belegt, obwohl diese vielleicht nur fünf Prozent aller Anlagen ausmachen. Deswegen empfiehlt es sich, den Kapazitätsmarkt zu teilen. Die höhere Kapazitätsprämie, die Neubaukraftwerke brauchen, wird somit nur für diese bezahlt. Daneben schaffen wir ein zweites Marktsegment für die stilllegungsgefährdeten Bestandskraftwerke, deren notwendige Kapazitätsprämie sehr viel niedriger ist. Auf diese Weise sparen die Stromkunden einen erheblichen Betrag.

Oesterreichs Energie: Mit Ihrem Modell kämen Bestandskraftwerke ab etwa 2016 auf den Kapazitätsmarkt, Neubaukraftwerke ab 2019. Ist das nicht etwas spät? Deutschland mietet ja schon jetzt Kapazitäten in Österreich an, um Engpässe zu decken.

Felix Matthes: Man muss zwei Horizonte unterscheiden: Kapazitätsmärkte sind eine mittelfristige Antwort auf ein mittel- und langfristiges Problem. In Deutschland haben wir derzeit ein kurzfristiges Problem, das anders zu lösen ist. Auch zu der Zeit, als die österreichischen Kraftwerke für Deutschland angeworfen wurden, exportierte Deutschland Strom nach Österreich. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wir heben den Marktverbund mit Österreich auf, oder wir führen eine Übergangslösung ein, in der die Bundesnetzagentur Kraftwerke zwangskontrahieren kann, die sonst stillgelegt würden. Das ist aber in der Tat eine kurzfristige Lösung für dieses kurzfristige Problem. Sie darf sich nicht als Dauerlösung erweisen. Zumindest für die Perspektive 2030, 2035 sind Kapazitätsmärkte unausweichlich. Deshalb muss man sie so schnell wie möglich aufsetzen und idealerweise versuchen, sie zumindest im pentalateralen Forum (Österreich, Deutschland, Frankreich, Benelux) zu harmonisieren. Hoffentlich reicht die durch den Wahlkampf in Deutschland bedingte politische Pause im kommenden Jahr aus, um die notwendigen Diskussionen zu führen.

Oesterreichs Energie: Wird es möglich sein, die Weichenstellungen für den fokussierten Kapazitätsmarkt noch vor der deutschen Bundestagswahl im Herbst 2013 vorzunehmen?

Felix Matthes: Das ist nicht zu erwarten. Im Jahr 2013 besteht die Aufgabe folglich darin, die Themen soweit aufzubereiten und auszudiskutieren, dass die nächste Regierung die entscheidenden Eckpunkte in die Koalitionsvereinbarungen aufnimmt, und wir 2014 zu einer entsprechenden Gesetzgebung kommen können. Das ist schon ein sehr ehrgeiziger Terminplan. Schneller geht es nicht, weil auch noch eine Reihe technischer Fragen zu klären ist.

Oesterreichs Energie: Die erneuerbaren Energien werden bereits subventioniert. Die Debatten über Kapazitätsmärkte laufen ebenfalls auf Subventionen hinaus. Wo bleibt da noch der freie Strommarkt?

Felix Matthes: Die Kapazitätsmärkte sind eine Antwort auf ein Problem, das durch die erneuerbaren Energien beschleunigt, aber nicht durch sie verursacht wird. Kapazitätsmärkte wurden ja in Nordamerika erfunden, wo es keine vergleichbare Förderung der erneuerbaren Energien gab. Wir leben bis heute von Kapazitäten, die zu Monopolzeiten finanziert wurden. Es zeigt sich immer deutlicher, dass diese Märkte diese Kapazitäten nicht erhalten können. Also geht es nicht um die Frage "Mehr oder weniger Markt", sondern darum, einen Markt für ein Produkt zu schaffen, das die in einer bestimmten historischen Situation entstandenen Märkte nicht bereitstellen können, nämlich Versorgungssicherheit.

Die Aufgabe ist daher, den Bedarf an Versorgungssicherheit gesellschaftlich zu definieren und die Erbringung der Leistung "Versorgungssicherheit" wieder einem Markt zu überlassen. Es geht nicht darum, den Markt zurückzudrängen, sondern für den Bedarf, den wir an Versorgungssicherheit haben, ein zusätzliches Marktsegment zu schaffen. Eines darf man nicht ignorieren: die heutigen Märkte entstanden auf der Basis eines Kapitalstocks, der zu Monopolzeiten errichtet wurde. In den frühen 1930er-Jahren, bevor die großen deutschen Elektrizitätsriesen entstanden, wurden Kraftwerke über Leistungs- und Arbeitspreis finanziert. Das ist nichts weiter als der heutige kWh-Markt und der künftige kW-Markt. Wir kommen somit wieder zurück zu einer Struktur der Erlösströme, die wir zu einer Zeit hatten, als der Wettbewerb in der Stromwirtschaft auf der grünen Wiese begann.

Oesterreichs Energie: Das heißt, die Leistungskomponente des Energiepreises wird in Zukunft eine größere Rolle spielen?

Felix Matthes: Ja. Das künftige Energiesystem wird, wie immer es ausgestaltet sein wird, kapitalintensiver sein als das derzeitige. Denn erneuerbare Energien, aber auch fossile Kraftwerke, die wenig ausgelastet sind, sind kapitalintensiv. In einem solchen System wird die Ertragskomponente für Leistung ohne jeden Zweifel eine größere Rolle spielen als bisher.

Oesterreichs Energie: Zum derzeitigen Energiemarkt gehört der EU-interne CO2-Markt. Wie kann dieser wieder zum Funktionieren gebracht werden?

Felix Matthes: Im Moment funktioniert der Markt aus zwei Gründen nicht: erstens, weil die Obergrenze für die Zuteilung der Zertifikate (Cap) unter einer anderen Hypothese für die Wirtschaftsentwicklung entstand und zweitens, weil das System mit Zertifikaten aus Klimaschutzprojekten in der Dritten Welt, also CDM-Projekten, geflutet wurde. Es besteht daher ein Überschuss von etwa zwei Mrd. Zertifikaten. Davon stammen 500 Mio. aus der Wirtschaftskrise und 1,5 Mrd. aus dem CDM. Wir müssen diesen Überschuss abbauen. Das bedarf zweier Schritte. Zum einen ist es notwendig, relativ kurzfristig Zertifikate aus dem Markt zu nehmen, was derzeit in Brüssel unter den Begriffen Back-loading und Set-aside diskutiert wird. Zum anderen muss langfristig die Knappheit erhöht werden. Das bedeutet, die Reduktionsziele zu erhöhen und die Cap zu reduzieren. Nur eine Strategie, die auf beiden Elementen basiert, kann den Markt dahin bringen, wieder eine echte Knappheit zu reflektieren. Die heutigen Preise sind rein spekulationsmotiviert. Es gibt Investoren, die heute Zertifikate kaufen, in der Hoffnung, diese 2025 mit einer zehnprozentigen Verzinsung zu verkaufen. Wenn man das rückwärts rechnet, kommt man exakt auf den heutigen Preis.

Oesterreichs Energie: Eine derart umfassende Reform, wie Sie sie vorschlagen, bedürfte möglicherweise einer Revision der Emissionshandelsrichtlinie. Eine solche ist für manche Staaten wie Polen mit seinen Kohlekraftwerken aber inakzeptabel.

Felix Matthes: Back-loading funktioniert auch ohne Änderung der Richtlinie, indem man die Auktionierungsverordnung anpasst. Für die Erhöhung der Reduktionsziele und die Senkung der Cap ist die Richtlinie zu ändern, was mit Mehrheitsbeschluss erfolgen kann. Eines wird man aber auch sehr klar sagen müssen: Wenn der Emissionshandel seine Funktion nicht erfüllt, wird Energiepolitik nur noch mit Instrumenten wie dem EEG gemacht. Und die Industrie wird sich – wie auch Polen – überlegen müssen, ob das die bessere Alternative ist.