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Zwischen Rotlicht, Hausfrau, Diva und Tussi: Lackierte Fingernägel sind mehr als bloßes Mode-Accessoire - oder doch nicht?

Foto: Corbis

Was wäre Barbra Streisand in The Way We Were ohne ihre Fingernägel? Blutrot und lang sind sie, tragisch und sinnlich. Sie sehnt sich nach Robert Redford, nach diesem Mann, der Geborgenheit verspricht, und ihre Fingernägel greifen danach. Wenn sie ihn umarmt, mit ihm tanzt, ihre Hand auf seiner Schulter, und immer wieder seine Haare aus der Stirn streicht. Bis zur letzten Szene manifestieren sich ihr Verlangen, die Zerbrechlichkeit und Stärke in ihren Fingernägeln.

Es ist die Oberfläche, die unsere inneren Sehnsüchte transportieren muss. Schon seit Olims Zeiten gehört das Verzieren der Fingernägel zum Menschen. Im alten Ägypten etwa färbten Frauen ihre Fingernägel mit Henna und farbigen Ölen. Es war eine weitverbreitete Kosmetikpraxis, die, anders als in China und Babylon, über soziale Klassen hinweg gelebt wurde. Auch beim modernen Nagellack geht es um Gesellschaft und Kultur, um die feinen Unterschiede der codierten Äußerlichkeiten.

Die Flüssigkeit im Glasfläschchen, die 1925 nach dem Vorbild des Autolacks erfunden wurde, sollte anfangs Hausfrauen in Hollywood-Diven verwandeln. Die Pioniere des Lackes, das amerikanische Kosmetikunternehmen Revlon, wussten mit der Sehnsucht der Frau umzugehen. "In den Fabriken machen wir Kosmetika; in den Parfümerien verkaufen wir Hoffnung", meinte einst Charles Revson, einer der Revlon-Firmengründer.

Nur bunte Männernägel vermögen noch zu schockieren

Gepflegte Nägel waren Sache der Aristokratie und Symbol der nichtarbeitenden Oberschicht. Obwohl diese Zuschreibung gemeinhin als passé angesehen wird, kann man sich ihrer bedienen. Während die Queen - genauso wie Prinzessin Kate - zeitlebens Nude-Nägel trägt, und damit einen allgemeinen Trend der europäischen Noblesse vorexerziert, hielt die selbstbestimmte Simone de Beauvoir gerne mit knallroten Fingernägeln dagegen. Heute darf weitgehend unabhängig vom Status und je nach Saison umlackiert werden. Allein bunte Männernägel vermögen noch zu schockieren, berühmten Vorbildern wie Jean Paul Gaultier, Johnny Depp und David Beckham zum Trotz. Ansonsten fällt man nicht auf, solange sich die Nagelform in der Norm bewegt. Grellbunte Fingernägel sind für manche Frauen ein dankbares Mittel für die persönliche Grenzüberschreitung, die Öffentlichkeit juckt es kaum.

Die Subkultur bediente sich einst der Farbe Schwarz - auch auf Fingernägeln war sie ein deutliches Label: unverbesserlicher Goth, Punk, Emo. 1994 brach Uma Thurman mit diesem Tabu. Im Filmklassiker Pulp Fiction des Punkregisseurs Quentin Tarantino lösten ihre dunkelroten kurzen Nägel einen regelrechten Lackhype aus, Chanel Rouge Noir 18 war wochenlang ausverkauft. Der Inbegriff des Protests wurde zum Mainstream. Heute kommt die dunkle Farbpalette schon fast konservativ rüber.

Retro-Krallen

In der Popmusik, der Lifestyle-Schmiede schlechthin, sind vor einigen Jahren die langen Nägel wiederauferstanden. Adeles Retro-Krallen sehen nicht nur Jane Fondas Nägeln aus dem Jahr 1960 zum Verwechseln ähnlich, sie versöhnten sicherlich viele Fans mit dem Nagelvorurteil des Billigen. Denn wenn es um Fingernägel geht, sind Trash und Zwielicht nicht weit weg. Genau darauf setzt Lana Del Rey, die unter ihren vielen extravaganten Nageldesigns auch die French Manicure à la Pamela Anderson und Missy Elliott zur Schau stellt.

"Der Nagellack ist heute ein Modeaccessoire, das von Street-Style-Fotografen genauso akribisch abgelichtet wird wie das jeweilige Outfit." Zita Tourneur-Wendt, Managerin bei der Parfümeriekette Marionnaud, sieht im Nagellack keinen gewöhnlichen Kosmetikartikel wie Lippenstift und Mascara, sondern das "It-Accessoire", das einen "preiswerten Einstieg in die Welt des Luxus" ermöglicht. Auch hier gilt: Die Jugend gibt den Ton an. Das erkennen auch Nagellackgrößen wie OPI und Essie. Ihnen gelingt intelligentes Promi-Marketing, Kooperationen mit Sternchen und Pop-Prinzessinnen, die das Verlangen nach der einen Farbe, der speziellen Textur und dem unnachahmlichen Schimmern wecken.

Wird der Nagellack von der Industrie missbraucht? Nagellack ist ein Massenprodukt, verliert aber eines nicht: seinen Mythos. Noch immer schafft er den Spagat zwischen Produkt und Praxis, schon das Auftragen des Lackes ist eine Hommage an die "weibliche" Frau, die sich Zeit für sich und ihre Fingernägel nimmt. (Louise Witt-Dörring, RONDO, Der Standard, 1.3.2013)