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Essen, trinken, diskutieren: Das ist das Bild, das viele Nichtfranzosen von Franzosen haben. Stimmt nicht, zeigen Untersuchungen. Es wird weniger, dafür durchwegs produktiver gearbeitet.

Foto: AP/Jacques Brinon

Paris - Perplex verfolgen Franzosen den rüden Schlagabtausch zwischen dem US-Fabrikanten Maurice M. Taylor und dem Pariser Industrieminister Arnaud Montebourg. Der Gründer des amerikanischen Reifenherstellers Titan lehnte ein Angebot der französischen Regierung, ein Goodyear-Werk in Amiens zu übernehmen, mit dem Argument ab, die "sogenannten Arbeiter" bezögen in Frankreich hohe Löhne und arbeiteten pro Tag gerade mal drei Stunden - den Rest verbrächten sie mit diskutieren, pausieren und essen.

Montebourg antwortete in der Vorwoche, diese Behauptung sei "lächerlich" und "beleidigend". Wenn Taylor seine Arbeiter lieber in Billiglohnländern "ausbeuten" wolle, werde seine Regierung den Import von Titan-Reifen in Zukunft genaustens prüfen, drohte der Minister.

Taylor, der den US-Republikanern nahesteht und für sein loses Mundwerk bekannt ist, konterte, er habe mit den "Spinnern der kommunistischen Gewerkschaft" in Amiens lange verhandelt. "Wir haben nur gesagt, dass jemand, der für sieben Stunden am Tag bezahlt werden will, wenigstens sechs Stunden arbeiten muss". Viele Geschäftsleute hätten ihm erklärt, er sei verrückt gewesen, Millionen für den Kauf einer Reifenfabrik in Frankreich ausgeben zu wollen.

In der Zwischenzeit haben viele Ökonomen in Paris mit Zahlen geantwortet. Und die widersprechen Taylors Einschätzung weitgehend. In Frankreich wird nicht drei, sondern sieben Stunden am Tag gearbeitet - wegen der 35-Stunden-Woche. Aufs Jahr gesehen sind französische Arbeiter 1480 Stunden "au boulot" (an der Arbeit). Das sind zwar 150 bis 250 Stunden weniger als Briten, Amerikaner oder Italiener, aber 60 Stunden mehr als Deutsche.

Ähnliches gilt für den Stundenlohn. In der französischen Industrie beträgt er 35,9 Euro, ein halber Euro mehr als in Deutschland. Diesen Unterschied machen die französischen Arbeiter durch eine in Europa rekordhohe Produktivität wett: Sie liegt fünf Prozent höher als in Deutschland und 25 Prozent höher als im EU-Schnitt.

Hohe Direktinvestitionen

Innerhalb von Europa ist Frankreich deshalb das Land mit den höchsten Direktinvestitionen fremder Firmen und Investoren. In Frankreich sind 20.000 ausländische Unternehmen tätig, die fast zwei Millionen Leute beschäftigen. Laut der französischen Agentur für internationale Investitionen (Afii) sind die Amerikaner 2011 sogar die wichtigsten Investoren in Frankreich geworden. 2012 öffnete zum Beispiel Amazon zwei neue europäische Umschlagplätze in Frankreich; der US-Nahrungsmulti Mars schloss ein Werk in Polen und verlagerte die Produktion nach Frankreich.

Das "Wall Street Journal" äußert allerdings auch Verständnis für Titan-Chef Taylor, wenn er die hohe Arbeitslosigkeit in Frankreich (über zehn Prozent) anprangert: Das rigide Arbeitsrecht verunmögliche es faktisch, Leute zu entlassen, weshalb Unternehmer gar keine Arbeitsverträge mehr schlössen, meint das liberale US-Blatt. Die "International Herald Tribune" verurteilt ebenfalls das rigide Arbeitsrecht in Frankreich und den Einfluss "politischer" Gewerkschaften.

"Wenn Sie mich fragen, ob der soziale Dialog in Frankreich schlecht funktioniert und das Land im Ausland ein schlechtes Image hat, lautet meine Antwort ja," sagt Afii-Leiterin Clara Gaymard. Frankreich sei sehr produktiv und habe gute Ingenieure; gleichzeitig sei der Arbeitsmarkt blockiert. Gaymard: "Frankreich ist ein großartiges Land - und gleichzeitig sehr irritierend." (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 26.2.2013)