Wien - Das erste Täuschungsmanöver der Wiener Kammerspiele ist im Nu durchschaut. Die Komödie Venedig im Schnee des Parisers Gilles Dyrek (46) spielt nicht, wie zu erwarten, in der Lagunenstadt an der oberen Adria.

Dieser bedauerliche Umstand wird durch einen anderen Gunsterweis des Schicksals mehr als ausgeglichen: Die 170-qm-Wohnung, in der Nathalie (Alexandra Krismer) und Jean-Luc (Oliver Huether) glücklich liiert residieren, liegt fast in Sichtweite des Pariser Eiffelturms. Da kann man nicht klagen, auch wenn die Wände der Belle-Époque-Bleibe wegen Renovierungsarbeiten vorderhand nur aus Transparentfolie bestehen (Bühne: Stephan Dietrich).

Der zweite gutmütige Versuch, das Publikum hinters Licht zu führen, besitzt schon Tradition. Ein zärtlich turtelndes Paar bittet ein zweites, befreundetes Paar zu Tisch. Man glaubt sich ausreichend miteinander vertraut. Man lässt, ohne besondere Zurückhaltung zu üben, voreinander die Hosen herunter.

Als unangefochtene Meisterin dieses die Scheinheiligkeit des Bürgertums ans Messer liefernden Genres darf man die Französin Yasmina Reza ansehen. Ihr prototypischer Gott des Gemetzels hat sogar - unter der Mitwirkung von Christoph "Oscar" Waltz - als Roman-Polanski-Film weltweit für Furore gesorgt.

Einen ähnlichen Welterfolg wird man Venedig im Schnee eher nicht vorhersagen können. Der hereinplatzende Studienfreund Christophe (Martin Niedermair) taucht in Begleitung eines schönen, kapriziösen Zauberwesens (Hilde Dalik) auf. Patricia grollt ihrem Partner, von dem sie sich nicht ausreichend geliebt wähnt. Die Gastgeber wiederum glauben, es mit einem fremdländischen ("migrantischen") Freudenmädchen zu tun zu haben.

Pseudo-Gutmenschen

Patricia nimmt das Rollenangebot an: Sie stamme aus "Chouwenien", einer exjugoslawischen Republik. Und weil die Gastgeber, die sich rasch als herzlose Pseudo-Gutmenschen entpuppen, einander unentwegt "Chouchou" nennen, eignet dieser Tatsachenverdrehung eine gehörige Portion Hinterlist. Stücke wie Venedig im Schnee sind Therapiestunden. Auf die Couch gebeten wird die ganze Wohlstandsgesellschaft.

Leider hat das Stück etwa zur Halbzeit alle seine Atouts ausgespielt: Hilde Daliks Liebreiz, Oliver Huethers Schusseligkeit, Alexandra Krismers Hysterie. Folke Braband hat als allzu milder Krisendiagnostiker Regie geführt. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 23./24.2.2013)