"Für Politiker aus Österreich ist es noch ungewöhnlich, sich als nichtreligiös zu deklarieren."

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STANDARD: Sie stellen im Rahmen des internationalen Forschungsprojekts "Religion in the European Parliament" die Gretchenfrage: Wie halten es die EU-Abgeordneten mit der Religion?

Mourão Permoser: Die Mehrheit der Abgeordneten sagt, Religion spiele eine Rolle im EU-Parlament, vor allem als eine soziale und politische Realität, aber zum Teil auch als eine Quelle persönlicher Inspiration und durch den Einfluss religiöser Interessenvertretungen. Die meisten glauben, dass die Bedeutung von Religion unterschiedlich ist je nach Staatsangehörigkeit, aber sie glauben nicht, dass Religion zu Spannungen zwischen katholischen, protestantischen und orthodoxen Abgeordneten führt. Und die meisten sagen, dass sie zwar Religion in ihrer eigenen politischen Praxis berücksichtigen, aber eher selten - und nur in Bezug auf spezifische Themenfelder. Insgesamt zeigen unsere Ergebnisse, dass Religion zwar präsent ist im EU-Parlament, aber nicht allzu stark.

STANDARD: Gibt es auffällige Unterschiede je nach Partei oder Land?

Mourão Permoser: Über 80 Prozent aller EU-Abgeordneten antworten, dass Religion eine unterschiedliche Bedeutung je nach Staatsangehörigkeit hat. Obwohl die Forschung zu politischer Willensbildung und Abstimmungsverhalten im EU-Parlament zeigt, dass diese mehr von parteipolitischen Faktoren als von nationaler Zugehörigkeit abhängen, wenn es um Religion geht, spielt die Sozialisierung in einem bestimmten nationalen Verständnis der Beziehung zwischen Staat und Kirche eine gewichtige Rolle - nicht zuletzt weil die Schaffung des modernen Nationalstaats und die Definition der nationalen Identität in vielen EU-Ländern sehr eng mit einem bestimmten Modus der Trennung zwischen Kirche und Staat zusammenhängt.

STANDARD: Was heißt das für die Österreicher in Brüssel?

Mourão Permoser: Generell ist es auffallend und sehr signifikant, dass mehr als doppelt so viele österreichische als andere EU-Abgeordnete Antworten über ihre Religiosität verweigern. Zugleich ist die Gruppe, die angibt, keine Religion zu haben bzw. nicht an Gott oder eine Art Geist zu glauben, bei den österreichischen Abgeordneten fast inexistent. Bezogen auf alle EU-Mandatare sind es fast 30 Prozent. Das deutet darauf hin, dass es im österreichischen Kontext, trotz aller Veränderungen in Gesellschaft und Politik, für Politiker immer noch ungewöhnlich ist, sich als nichtreligiös zu deklarieren. Zugespitzt formuliert: Für österreichische Abgeordnete ist die eigene Religiosität etwas, worüber man nicht spricht - nicht sprechen darf? -, oder man spricht darüber als bekennender Christ.

STANDARD: Wie äußert sich das?

Mourão Permoser: Der Prozentsatz der österreichischen EU-Mandatare, die angeben, Religion sei für sie eine Quelle von Inspiration in der Ausübung ihres Mandats, ist relativ gering: 24 Prozent verglichen mit 31,2 Prozent für die EU-Abgeordneten insgesamt. Die Österreicher, die das von sich behaupten, sind alle auf der rechten Seite des politischen Spektrums (ÖVP, FPÖ, BZÖ) oder bei der eher populistisch ausgerichteten Liste Martin. Kein einziger der befragten SPÖ- oder Grün-Abgeordneten hat das von sich behauptet.

STANDARD: Wie interpretieren Sie, dass besonders viele Österreicher keine Fragen über (ihre) Religion beantworten wollten?

Mourão Permoser: Dieses Schweigen über die eigene (Nicht-)Religiosität regt an, über die Rolle von Religion in der Definition politischer Identitäten nachzudenken. Lange galt unter europäischen Religionssoziologen die These: Je moderner eine Gesellschaft ist, desto säkularer wird sie. Eine These, die heute sehr umstritten ist. Für den Soziologen José Casanova etwa ist die kognitive Verbindung zwischen Modernität und Religion in Europa so stark geworden, dass es normativen Charakter gewonnen hat. Jemand, der in Europa als modern und progressiv wahrgenommen werden möchte, darf sich nicht als religiös definieren. Das Nicht-Antworten auf Fragen über Religiosität könnte also als Bekenntnis zu dieser bestimmten Vision von Säkularismus verstanden werden. Zugleich ist die Abwesenheit der "Nichtreligiösen" unter Österreichs EU-Abgeordneten auch das größte Zeugnis für die verbleibende Präsenz von Religion in der österreichischen Politik. Die Schwierigkeit, die eigene (Nicht-)Religiosität zu deklarieren, deutet möglicherweise auch auf eine tiefsitzende, von Unbehagen geprägte Verbindung zwischen Identität und Religion. Es macht Sinn, über das Schweigen über die eigene (Nicht-)Religiosität bzw. Religion bei gleichzeitiger Thematisierung der Religion der "anderen" nachzudenken. Weil es eine unausgesprochene und unansprechbare Verbindung zwischen Identität und Religion gibt, ist es möglich, über die negative Politisierung der Religion der "anderen" Zugehörigkeitsgefühle der eigenen europäischen bzw. österreichischen Bevölkerung zu mobilisieren.

STANDARD: In welcher Form macht sich religiöser Einfluss bemerkbar? Für Gott in der EU-Verfassung, der auch von österreichischen Vertretern (ÖVP, Mölzer) gefordert wurde, hat es ja doch nicht gereicht ...

Mourão Permoser: In der Wahrnehmung der EU-Abgeordneten ist der Einfluss von Religion am größten im Bereich des Kampfs gegen Diskriminierung, gefolgt von Sozialpolitik. Viele geben an, Religion spiele vor allem eine Rolle, wenn es um moralische Fragen geht, etwa bei Debatten über Abtreibung, Finanzierung von Forschung mit Embryonen etc. Eine sehr große Mehrheit, von den Österreichern sogar 77 Prozent, gibt an, Religion spiele eine Rolle dabei, wie die Bewerbung der Türkei im EU-Parlament aufgenommen wurde. Das scheint zwei Tendenzen zu bestätigen: die Wichtigkeit der Frage von Minderheitenschutz für die Abgeordneten und die latente Verbindung zwischen Identität und Religion in Europa. Wieder fungiert die Religion der "anderen" als Katalysator oder gar ein Ventil, um diese latente Verbindung zum Ausdruck zu bringen. Auch wenn die Kontroversen um die Verfassungspräambel zeigen, dass die Spannung auch das eigene Selbstverständnis betrifft.

STANDARD: Sie referierten an der Uni Wien beim Kongress "Rethinking Europe with(out) Religion". Wo schlägt das Pendel im Moment gerade aus? Mit oder ohne Religion?

Mourão Permoser: Religion ist eine politische und soziale Realität, die sich von selbst aufzwingt. Die Frage ist eher: Wann und wie mit Religion, wann und wie ohne?

STANDARD: Der kanadische Philosoph Charles Taylor spricht vom "säkularen Zeitalter", Jürgen Habermas von einer "postsäkularen Kultur". Er betont den Stellenwert der Religion, in der er etwas sieht, um gegenüber dem globalen Kapitalismus die "knappe Ressource Solidarität" aufrechtzuerhalten. Welcher Position neigen Sie zu?

Mourão Permoser: Ich finde diese Thesen nicht widersprüchlich. Taylor sieht unsere Zeit als das "säkulare Zeitalter", weil sie durch Pluralismus geprägt ist. Religion ist weder politisch, noch gesellschaftlich ausschlaggebend für Teilnahme und Teilhabe. Habermas' " postsäkulare" Gesellschaft meint eine Gesellschaft, die zwar säkular ist, aber trotzdem die andauernde Bedeutung von Religion wahrnimmt. Er ist aber auch daran interessiert, wie so eine Gesellschaft mit zunehmendem - religiösem, kulturellem, ethnischem, politischem - Pluralismus umgehen kann, sodass alle Bürger, ob religiös oder nicht bzw. aus welcher Religion auch immer, inkludiert sind und volle Anerkennung genießen. Ich glaube, dass das in der Tat die allergrößte Herausforderung unserer Zeit ist - die Fähigkeit, die öffentliche Sphäre so zu gestalten, dass sie für alle gleichermaßen inkludierend ist, ohne dass Menschen ausschlaggebende Aspekte ihrer Identitäten verschweigen, aufgeben oder in die Privatsphäre verbannen müssen, aber auch ohne ihre eigene partikularistische Konzeption des guten Lebens anderen aufzuzwingen.

STANDARD: Wie kann das denn gelingen?

Mourão Permoser: Jeder Versuch, das Prinzip der gegenseitigen und öffentlichen Anerkennung aller Gruppen unter Beibehaltung der Neutralität des Staates braucht zuerst einen gesellschaftlichen und politischen Grundkonsens über die faktische Realität und den normativen Wert des Pluralismus. Das heißt: Die Bürger und die Politik müssen davon ausgehen, dass wir in einer pluralen und immer pluraler werdenden Gesellschaft leben und dass das etwas Gutes ist - und sie müssen auch entsprechend agieren. Aber genau dieser Grundkonsens ist in Österreich meiner Meinung nach noch längst nicht zufriedenstellend etabliert. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 23./24.2.2013)