Sieht in der neunten Woche der Proteste ein Kippen der Stimmung wie bei Arigona Zogaj und Natascha Kampusch: Caritas-Wien-Pressesprecher und künftiger Geschäftsführer Klaus Schwertner.

Foto: DER STANDARD/Andy Urban

STANDARD: Der Flüchtlingsprotest in der Votivkirche hält seit neun Wochen an, eine Lösung ist nicht in Sicht. Vielfach herrscht Unverständnis, dass die Caritas die Flüchtlinge weiterhin unterstützt. Warum tut sie das?

Schwertner: Weil es um konkrete Menschen in einer Notsituation geht. Ihnen zu helfen, ohne die Schuldfrage zu stellen, ist Aufgabe der Caritas, sei es nun in der Obdachlosenarbeit oder bei der Pflege. So ist es durch das Evangelium begründet - und ob wir in der Öffentlichkeit dafür geliebt werden oder nicht, ist unwichtig.

STANDARD: In der Votivkirche findet politischer Protest statt. Macht das keinen Unterschied?

Schwertner: Wir sehen die Flüchtlingen als verzweifelte Menschen, die mit einem Hilfeschrei auf ihre Not aufmerksam machen. Mit dem Politischen an diesem Hilferuf mussten wir erst umgehen lernen. Ich meine, dass die Flüchtlinge dasselbe tun wie die Gewerkschaft oder die Industriellenvereinigung: Sie treten für die Interessen ihrer Gruppe ein.

STANDARD: Aber dieser Protest ist anhaltend und radikal. Damit haben Sie kein Problem?

Schwertner: Dass Schutzsuchende erstmals in Österreich selbst für ihre Anliegen eintreten, ist positiv. Dass sie dabei, wie Gewerkschaft und Industriellenvereinigung, Forderungen aufstellen, die nicht gleich erfüllbar sind, liegt in der Natur der Sache. Doch sie müssen lernen, dass man als politische Bewegung unrealistische Forderungen stellen, aber nicht erwarten kann, dass diese erfüllt werden.

STANDARD: Sie sind seit dem Auftauchen der Flüchtlinge in der Votivkirche am 18. Dezember fast täglich vor Ort. Was haben Sie persönlich in der Zeit gelernt?

Schwertner: Mir ist klar geworden, wie sehr das Flüchtlings- und Asylthema emotionalisiert und polarisiert. Dabei wissen wir alle viel zu wenig über die Motive von schutzsuchenden Menschen. Etwa, dass es über die großen Krisenherde hinaus auch in vielen anderen Ländern Verfolgung gibt. Mir etwa war davor nichts über die Lage in Teilen Pakistans bekannt, wo die meisten Flüchtlinge in der Votivkirche herkommen (siehe Artikel unten).

STANDARD: Insgesamt scheint die am Beginn bestehende Sympathie für den Protest vielfach zu schwinden. Warum?

Schwertner: Das ist eine Art Arigona-Zogaj- oder auch Natascha-Kampusch-Effekt. Wenn jeden Tag über ein emotionalisiertes Thema berichtet wird, beginnt es mit der Zeit zu nerven. Aber auch manche Medien haben mit kriegerischen Zuschreibungen - Besetzung, Rückzug - an dem Kippen der Stimmung Anteil.

STANDARD: Viele verstehen vor allem nicht, warum die Flüchtlinge so hartnäckig an ihrem Protest festhalten. Warum tun sie das?

Schwertner: Sie können und wollen das Misstrauen nicht akzeptieren, das Asylwerbern in Österreicher vielfach entgegenschlägt. Sie wollen stattdessen als vollwertige Menschen wahrgenommen werden, selbst für sich sorgen und nicht in schimmeligen, abgelegenen Quartieren untergebracht werden: Forderungen, die die Caritas unterstützt.

STANDARD: Die Flüchtlinge wollen aber auch Aufenthaltsrecht für sie alle. Eine solche Lösung aber ist nicht vorgesehen. Lässt sich die Caritas hier instrumentalisieren?

Schwertner: Nein, denn wir sehen es auch als unsere Aufgabe an, die Protestierenden zu enttäuschen. Ihnen klarzumachen, dass es keine Kollektivlösung geben wird.

STANDARD: Seit Beginn der Proteste wurde viel diskutiert, aber wenig unternommen. Sind Sie von der Politik enttäuscht?

Schwertner: Nein, denn der Flüchtlingsprotest war bereits erfolgreich. Es gab Gespräche mit der Innenministerin, mit dem Vizepräsidenten des Europaparlaments, es gab den Brief des Bundespräsidenten. Trotzdem: Persönlich würde ich mir von Politikern mehr Mut wünschen, denn im Asylwesen braucht es Änderungen. (Irene Brickner/DER STANDARD, 22.2.2013)