Ivan Krastev (48) leitet das Zentrum für Liberale Strategien in Sofia und forscht am IWM in Wien.

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Bulgariens Regierung steckte im Dilemma, analysiert der Politologe Ivan Krastev im Gespräch mit Markus Bernath: Steuerpolitische Disziplin war ihr großes Verdienst und zugleich ihre Verwundbarkeit.

STANDARD: Was waren wohl die Gründe für Borissows Rücktritt?

Krastev: Das Ausmaß der Proteste war ziemlich bedeutend für bulgarische Verhältnisse, und ich glaube, Borissow war aufgebracht darüber, dass er keine Kontrolle über die Situation am vergangenen Wochenende hatte. Ein zweiter Grund ist, dass es weder für ihn noch irgendjemand anderen so einfach wäre, die Forderungen der Demonstranten zu erfüllen. Es geht nicht nur um die Strompreise, sondern um die wirtschaftliche Lage der Menschen. Die kann man nicht in zwei, drei Monaten verbessern.

STANDARD: Diese Regierung hat sich von Anfang an aufs Sparen verlegt.

Krastev: Selbst wenn sie sich entschlossen hätten, jetzt Geld auszugeben, hätte es nichts geändert. Diese Regierung sieht ihr Verdienst, aus Bulgarien eines der fiskalpolitisch diszipliniertesten Länder der EU gemacht zu haben, mit einem Mal zerstört. Bulgarien ist der erste Fall von Fiskalstabilität in Europa, der in politischer und sozialer Destabilisierung endet. Ein psychologischer Grund mag für Borissows Rücktritt auch eine Rolle gespielt haben: Borissow war jemand, der beim Volk sehr beliebt war. Er ist einer dieser charismatischen Führer, die ihre Position erklären können, wenn sie die Leute treffen. Und jetzt fand er sich in einer Situation wieder, wo die Wähler nicht mehr interessiert sind, ihn anzuhören.

STANDARD: Es ist nicht das erste Mal, dass eine Regierung in Bulgarien über Demonstrationen stürzt.

Krastev: Verglichen mit 1997, als die damalige sozialistische Regierung auf Druck von Straßenprotesten zurücktrat, ist die Situation heute anders und schwieriger. Damals gab es auch eine neue politische Mehrheit. Heute nicht wirklich. Die Leute misstrauen der sozialistischen Opposition. Borissow ist ein wenig in der gleichen Lage wie Berlusconi - er verliert, aber man weiß nicht, ob er nicht doch wieder zurückkommt. (Markus Bernath, DER STANDARD, 21.2.2013)