"Vertriebene Vernunft" ­, die beiden wieder aufgelegten Standardwerke zur Emigration der österreichischen Wissenschaft. Das Hinausmobben jüdischer und/oder linker Forscher vor 1930 fehlt allerdings.

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Als das US-amerikanische Time Magazine im Juni 1999 die 100 wichtigsten Persönlichkeiten des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts porträtierte, waren auch einige Österreicher dabei. Unter den einflussreichsten Geistesgrößen fanden sich der Logiker Kurt Gödel und Sigmund Freud. Bei den Politikern durfte Adolf Hitler nicht fehlen, den das Magazin übrigens 1938 zum "Man of the Year" ernannt hatte.

Durch die Okkupation Österreichs am 12. März dieses Jahres Jahr nahm Hitler entscheidenden Einfluss auf die Biografien der beiden österreichischen Wissenschafter. Der bereits 82-Jahre alte Begründer der Psychoanalyse konnte dank prominenter Interventionen aus dem Ausland im September 1938 mit seiner Tochter nach London flüchten. In die Räume der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft zog das Orientalische Institut der Uni Wien ein.

Dem 50 Jahre jüngeren Mathematik-Genius Kurt Gödel wurde seitens der Uni-Leitung vorgeworfen, nicht genügend Bindung zum Nationalsozialismus zu haben. Der psychisch labile Logiker wurde zudem von einem Nazi-Studenten an der Uni attackiert. Mit seiner Frau Adele, die ihn mit einem Regenschirm verteidigte, verließ er Ende 1939 seine Heimat und gelangte über die Sowjetunion und Japan in die USA.

So wie Freud und viele andere Forscher sollte auch Gödel nie wieder österreichischen Boden betreten. Er lebte bis zu seinem Tod 1978 in Princeton und war dort einer der engsten Freunde des späten Albert Einstein, der wohl berühmtesten Emigranten und für Time die wichtigste Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts.

Der größte Brain-Drain

Gödel und Freud sind nur zwei der zahllosen Wissenschafter, die aus rassistischen und /oder politischen Gründen nach dem 12. März 1938 das Land verlassen mussten oder von den Nationalsozialisten ermordet oder in den Tod getrieben wurden. Allein die Universität Wien verlor nach 1938 65 Prozent ihrer Lehrenden, viele aus politischen Gründen, und nicht alle mussten gehen. Von den insgesamt rund 150.000 österreichischen Emigranten rund zehn Prozent Intellektuelle waren: Wissenschafter, Ärzte, Schriftsteller, Musiker und Filmschaffende kehrten Österreich zum Teil für immer den Rücken; ein Großteil, aber längst nicht alle waren jüdischer Herkunft.

Um nur zwei weitere Beispiele des größten Brain-Drains der österreichischen Geschichte zu nennen: Unmittelbar nach dem Anschluss entließ die Universität Graz mit dem Physiker Victor Franz Hess und den Pharmakologen Otto Loewi ihre zwei Nobelpreisträger (beide 1936): Der aktive Katholik Hess und der Jude Loewi mussten das Land verlassen und das Stockholmer Preisgeld den Nazis überlassen.

Seit etwa 1985 hat sich die heimische Wissenschaftsgeschichte - spät, aber doch - der Thematik angenommen. Zwei insgesamt fast 2000 Seiten starke Sammelbände, die Ende der 1980er-Jahre unter dem Titel Vertriebene Vernunft erschienen, bestimmen bis heute die Auseinandersetzung - auch wenn dieses Paradigma der "Vertriebenen Vernunft nach 1938" sowohl zeitlich wie auch inhaltlich zu kurz greift.

Auf der einen Seite war nicht alles, was in der Wissenschaft nach 1938 passierte, "verbliebene Unvernunft": In bestimmten Bereichen kam es nach 1938 sogar zu einem gewissen Professionalisierungsschub, wie etwa in der Zeitungswissenschaft, der Psychologie oder anderen instrumentalisierbaren Sozial- und Geisteswissenschaften. Auch der universitären Biologie ging es unter den Nazis nicht schlechter als unter den Austrofaschisten.

Frühes Hinausmobben

Auf der anderen Seite wurde lange ausgeblendet, dass man an den Unis mit dem Hinausmobben von linken Wissenschaftern oder solchen jüdischer Herkunft viel früher begann: Dozent Robert Bárány etwa, Medizin-Nobelpreisträger 1914, beantragte 1916 eine unbezahlte a. o. Professur - und biss auf Granit. Er wanderte nach Schweden aus. Karl Landsteiner, der Entdecker der Blutgruppen, erhielt 1920 zwar eine bezahlte a.o. Professor - aber mit der schikanösen Auflage, die Prosektur des Wilhelminenspitals zu übernehmen. Als Landsteiner 1930 den Nobelpreis erhielt, war er längst US-amerikanischer Staatsbürger.

Spätestens ab Mitte der 1920er-Jahre waren die Universitäten zu Brutstätten des Antisemitismus und des Nationalsozialismus geworden, daran änderte das kurze Interregnum der Austrofaschisten nur wenig. Jüdische Nachwuchsforscher hatten längst keine Chance mehr auf eine universitäre Karriere.

"Provinzielle Restauration"

Nach 1945 war es mit der "Vertreibung der Vernunft" keineswegs vorbei. Im Unterrichtsministerium und an den Unis dominierten nun wieder aktivierte ehemalige Austrofaschisten und CVer. In den Worten des Philosophen Ernst Topitsch: "Nun hatte ich unter dem nationalsozialistischen Terror von der Wiederherstellung der Geistesfreiheit im Zeichen eines christlichen Humanismus geträumt. Doch was dann wirklich kam, war eine erstickende provinzielle Restauration. Und ein kläglicher Klerikalismus verbreitete in den Hallen der Alma Mater eine fast mit Händen zu greifende Atmosphäre intellektueller Unredlichkeit, ohne auf entschiedenen Widerstand zu stoßen."

Mit anderen Worten: Durch den "Anschluss" 1938 hat Österreich für Jahrzehnte den internationalen wissenschaftlichen Anschluss verloren. (tasch, DER STANDARD, 20.01.2013)