Leo Hemetsberger, Philosoph und Unternehmensberater.

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Jeder Zusammenschluss von Menschen ist scheinbar auf Zwang und Konvention aufgebaut, Inklusion versus Exklusion zählen beim menschlichen Verhalten in sozialen Gruppen zu den stärksten Antriebskräften. Solche auf gemeinsame Ziele hin geschlossene Verbindungen von Individuen sind in größere Rahmengefüge eingebettet, die wiederum zu einem kollektiven Bedeutungshorizont gehören. In Gemeinschaften werden Übereinkünfte oft stillschweigend vorausgesetzt, in Unternehmen braucht es klar kommunizierte Regeln zu den üblichen Handlungsweisen.

Wie weit kann das gehen?

Die Differenz der Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie aus der Soziologie bekannt sind, sollte dabei nicht verwischt werden. Ein Unternehmen, das sich als Gemeinschaft versteht, hat ebenso ein problematisches Selbstverständnis wie ein religiöser Orden, der sich nur als Form vertraglicher Vergesellschaftung von Individuen fasst. In einer Gemeinschaft erleben sich Einzelne als Einheit im Sinne eines größeren Ganzen, sie fühlen, dass ihre Individualität in ihrer Eigenständigkeit aufgehoben ist. In einem gesellschaftlich-vertraglichen Verhältnis von Mitarbeitern in einem Unternehmen gibt es Grenzen, die zu akzeptieren sind. In manchen Großunternehmen oder Unternehmen, die mit Franchisepartnern zusammenarbeiten, werden diese durchlässiger oder bewusst verwischt, etwa durch Familienmetaphern die ein Gemeinschaftsgefühl suggerieren, das dort so aber nicht gegeben ist.

Ethos nennt man dieses Gemeinsame, das die Mitglieder in ihren Handlungsweisen verbindet, es wirkt sowohl in Gemeinschaften als auch in Gesellschaften. In Gemeinschaften wird das Ethos als unbedingter empfunden. Ist Ethos als Anspruch eines größeren Ganzen an die Einzelnen also eine Antithese zur persönlichen Freiheit?

Tugend als Kampf

Beziehen wir zwei kurze Aussagen J.J. Rousseaus, des Aufklärers und Naturphilosophen mit ein: "Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten." Das schreibt er in seinem Buch "Vom Gesellschaftsvertrag" ganz zu Beginn. Dies war einer der Leitsprüche während der frühen Umwälzungen der französischen Revolution gegen das Acien Régime. In einem anderen Satz behauptet er: "Tugend ist ein ständiger Kampf und danach zu leben bedeutet in beständigem Kampf mit uns selbst zu sein...".

Der Mensch ist also durch die ihn umgebene Gesellschaft und sich selbst beschränkt. Wie bringen wir Ethos und persönliche Freiheit in aktuellen Organisationsformen in Unternehmen zusammen?

Freiheit von und Freiheit zu

Das führt weiter zur Frage, wo die Grenzen der persönlichen Freiheit liegen. Reicht hierzu das, aus dem römischen Rechtsverständnis kommende, "neminem laede" - schade niemandem; heute bekannt als Spruch vom Ende der Freiheit des einen an der Nasenspitze des anderen? Betrachten wir dazu zwei gegensätzliche Herangehensweisen, wie Freiheit empfunden und ausdrückt wird: Freiheit von und Freiheit zu.

Die erste und allgemein bekannte Form, die Freiheit von, argumentiert von der Seite der persönlichen Freiheit aus: Jeder will frei von Beschränkungen sein, im Idealfall tun und lassen können was er/sie will.

Erkenntnisgewinn erfordert Grenzerfahrung

Wer Jugendliche in der pubertären Lebensphase zu Hause erlebt und sich bei jeder mit hormongesättigter Inbrunst vorgetragenen Anschuldigung betreffs der ungerechtfertigten Einschränkung persönlicher Freiheit (Ausgehzeiten, gesellschaftlich tolerierte Genussmittel mit Altersbeschränkung usf.) denkt, das darf ja wohl nicht wahr sein, jetzt geht das wieder von vorne los - kann sich damit beruhigen, dass es genau so sein muss. Die Illusion, dass der Mensch von selbst ganz vernünftig werde (wer, wann, wie, wo usf., und was heißt überhaupt ganz?) können wir gleich wieder fallen lassen. Erkenntnisgewinn erfordert Grenzerfahrung, und sei es nur in der Diskussion.

Andererseits gibt es die Formulierung der Freiheit zu. Sie wird von dem eine Gemeinschaft/Vergesellschaftungsform befürwortenden Denken vertreten. Wer sich einer Sache, es muss ja nicht gleich in der Form als Gelübde sein, verpflichtet fühlt, könne sich so in die innere Freiheit im Rahmen klarer Regeln ausdifferenzieren.

Welche Form von Freiheit meinen wir gewöhnlich, wenn wir Freiheit einfordern? Ist das, wenn sich jemand in eine Gesellschaft/Gemeinschaft einbringt und sich mit Regeln identifiziert nicht auch Freiheit? Ist es vielleicht sogar die "bessere" Form? Was heißt das im Hinblick auf die sogenannte persönliche Freiheit in ihrem Verhältnis zu Vorgaben übergeordneter Instanzen? Wieso wird die Freiheit zu oft als ein Verlust und die Freiheit von als Gewinn angesehen?

Würde in Krisenzeiten

Ethos, wie es in traditionellen Gemeinschaften verstanden wird, unterstützt und wahrt die persönliche Würde etwa in Krisenzeiten. In den Tagen vor dem Siegeszug der Wohlfahrtsstaaten mit den sozialen Absicherungsgarantien, also seit Menschengedenken bis zur ersten Sozialversicherung durch Bismarck 1883, war die jeweilige Standesehre (Berufsethos) ein Leitprinzip von Bevölkerungsgruppen. Ist das wirklich ganz Vergangenheit oder gibt es das in veränderter Form nicht nach wie vor?

Japanische Bürger wurden nach der Tsunami-Katastrophe und dem GAU in Fukushima gefragt, wieso sie so gehandelt hätten, wieso sie Ruhe bewahrten und Selbstkontrolle zeigten und keine Emotionen öffentlich auslebten. (Schlagzeile: Wieso plündern Japaner nicht?) Sie antworteten, dass sie sich sicher waren, dass sie Unterstützung und Hilfe von der Gemeinschaft erhalten würden. Sie mussten daher nur diszipliniert warten, bis sie an die Reihe kamen. Der Mangel an persönlicher Verantwortung und ein sich fatalistisch in kollektivistische Entscheidungsstrukturen Einfügen wurde als Kehrseite des japanischen Gemeinschaftsgefühls im Zuge dieser Katastrophe sichtbar.

Sozialverhalten

Es gibt Unterschiede im Sozialverhalten der Kulturen, in einigen wird Individualität und Eigenverantwortung als wichtiger angesehen, in anderen handelt man auf die Gemeinschaft hin. Kein Grund, diese Gegensätze gegeneinander auszuspielen. Aus europäischem Verständnis fragen wir, wie diese Unterschiede die Individuen betreffen, weil das aus unserer Gewohnheit wichtig scheint. Das Hochhalten des Individuums führt, um mit Sloterdijk zu sprechen, allerdings zu einem Verlust des heroischen Moments. Opfer ist heute zum Schimpfwort geworden, sich für eine Sache aufzuopfern scheint einfach nicht cool. (Aber wer sagt heute schon noch cool...)

Eine starke persönliche Haltung sichert Unterstützung in Momenten der Instabilität, unterstützt Selbstkontrolle und hilft Anstandsregeln zu wahren, führt zu Rücksichtnahme gegenüber anderen und man erhält Sicherheit im richtigen Verhalten. Der Verlust von Selbstkontrolle dagegen führt eher zum Verlust von Selbstrespekt.

Soziales Phänomen

Teil eines größeren Ganzen, ob einer Gemeinschaft oder einer bestimmten Gesellschaft zu sein, unterstützt also auch die persönliche Freiheit in ihrer Entwicklung. Deshalb ist Ethos ein wichtiges soziales Phänomen. Spannend bleibt, ob und wie essentielle "Werte" innerhalb der Gruppe, des Unternehmens, des Teams vermittelt werden.

Wir sind, wie unabhängig wir uns auch dünken, immer Teil des einen oder anderen Ethos, oft parallel in mehreren nach moralischen Imperativen gestalteten Organisationsformen. Wir haben die Freiheit, daran teilzunehmen oder auch nicht, mit den jeweiligen Konsequenzen, sofern ist der anfangs angesprochene Zwang relativ.

Regeln in sozialen Verhältnissen

Ethos ist eine Formgebung für die Freiheit und immer dort präsent, wo Menschen zusammenleben oder -arbeiten, manchmal mehr oder weniger spürbar. Regeln wirken, sobald wir in einem sozialen Verhältnis zu anderen stehen. Wir bewegen uns, auch wenn wir manches hinterfragen und uns mit großer Anstrengung bewusst an den Rand stellen, innerhalb der für die verschiedenen Gemeinschaften und sozialen Gruppierungen konstitutiven Rahmenbedingungen, denn sie schützen jedes soziale Miteinander - geben Sicherheit, Zusammenhalt und das Wichtigste - machen Vertrauen möglich.

Wenn aber Grenzen des Persönlichen in Unternehmen nicht anerkannt und wertgeschätzt werden, dann wirkt sich das auch negativ auf das Grundvertrauen aus. Hier die entsprechende Balance zu finden und zu halten, ist stete Aufgabe aller Beteiligten und kann durch eine gute Kommunikationskultur unterstützt werden. (Leo Hemetsberger, derStandard.at, 18.2.2013)