Radmila Šekerinska ließ sich nicht so leicht von ihrem Sessel auf dem Podium des Parlaments zerren. Sie versuchte mit ihren Füssen zu bremsen, warf ihren Kopf mit den blonden Locken nach hinten und schrie lauthals als sie von drei Leuten aus dem Saal getragen wurde. Auch drei weitere Parteikolleginnen der mazedonischen Sozialdemokraten setzten sich zur Wehr. Es war der 24. Dezember des Vorjahres, Šekerinska, die ehemalige EU-Ministerin und Premierministerin wurde wie die anderen Mitgliedern der Opposition mit Gewalt auf Anweisung der Regierungspartei VMRO-DPMNE aus dem Haus der Volksvertreter in Skopje getragen. Die Opposition hatte versucht durch eine Dauerrede die Annahme des Budgets zu verhindern und Sparmassnahmen durchzusetzen. Doch die Regierung wollte unbedingt den Staatshaushalt absegnen. Auch Journalisten wurden von "Ordnungshütern" einfach rausgeworfen.

Es war ein schwarzer Tag für die Demokratie des kleinen Balkanstaates. Seither schlittert Mazedonien in eine immer tiefer werdende innenpolitische Krise. Dabei geht es diesmal nicht um ethnische Spannungen zwischen slawischen und albanischen Mazedoniern oder den Prozess gegen ein paar Islamisten, denen vorgeworfen wird, im Vorjahr fünf Jugendliche ermordet zu haben. Diesmal verläuft die Trennlinie mitten durch die Gesellschaft.

Im März finden Lokalwahlen statt, doch die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition kann nicht als Vorwahlgeplänkel abgetan werden – dazu sind die Fronten viel zu verhärtet. Drei Parlamentarier wurden bei dem Vorfall am 24. Dezember verletzt. Die Sozialdemokraten (SDSM) weigern sich überhaupt, ins Parlament zurückzukehren. Ihr Chef Branko Crvenkovski sagte, das Hohe Haus sei für ihn ab nun ein Hort des "Faschismus und der Kriminalität".

Wahlboykott angekündigt

Die SDSM hat auch angekündigt, die Lokalwahlen am 24. März zu boykottieren, falls nicht gleichzeitig vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden sollten. Außerdem verlangt die Opposition, dass eine Regierung mit der Unterstützung aller Parteien formiert wird, die diese Wahlen organisieren soll. Der Justizminister, der Innenminister und der Finanzminister sowie der Chef des öffentlichen Fernsehens müssten zudem ausgetauscht werden. Diesen Samstag (16. Februar) endet die Deadline, bis zu der sich die Sozialdemokraten entscheiden müssen. Am Dienstag traf der Chef der Generaldirektion Erweiterung der EU-Kommission, Stefano Sannino, am Mittwoch der Rapporteur des Europäischen Parlaments, zuständig für Mazedonien, Richard Howitt in Skopje ein, um die Politiker zum Einlenken zu bewegen. Doch danach sieht es nicht aus.

"Es ist sehr unwahrscheinlich, dass die Regierungspartei die Bedingungen akzeptieren wird", sagt der Analyst Darko Aleksov von der NGO Most. Aleksov glaubt nicht, dass die Sozialdemokraten trotz des massiven diplomatischen Drucks der USA und der EU einfach so wieder ins Parlament zurückkehren. Kommende Woche will sogar EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle nach Skopje reisen, um die politischen Eliten aufzufordern, die Krise endlich zu lösen. Doch eine Lösung ist nicht in Aussicht.

"Die verführerische oder besser normative Macht der EU ist am Schwinden", meint auch Biljana Vankovska von der Universität Skopje. Man hoffe zwar noch immer, dass die Verhandlungen mit der EU Ende 2013 beginnen könnten, aber überzeugt ist man nicht. Mazedonien ist vom Geist des Misstrauens erfasst. Und das mit gutem Grund: 2009 schon hatte die EU-Kommission Mazedonien grünes Licht gegeben, doch Griechenland droht wegen des Namensstreits – seit vorigem Jahr auch Bulgarien wegen angeblicher Diskriminierung von Bulgaren in Mazedonien – mit einem Veto gegen den Beginn von Beitrittsgesprächen. Diese Woche gab es zumindest mit Bulgarien eine positive Entwicklung. Nach einem Gespräch zwischen den Premierministern Bojko Borisov und Nikola Gruevski rückt ein Nachbarschaftsvertrag näher, denn der Bulgare Borisov eingefordert hatte. Doch damit ist Mazedonien noch lange nicht näher an einem Datum für Beitrittsverhandlungen. "Die EU-Politiker haben die Erweiterungspolitik bisher als disziplinierende Macht genutzt, aber sie waren in ihren Bewertungen über den Fortschritt des Landes nie ehrlich", mein Vankovska verbittert. "Die Fortschrittsberichte und die positiven Empfehlungen dienten nur dem Zweck, dass die Reformen weitergehen, so als würde ein Lehrer einem schlechten Schüler einen Ansporn geben wollen, obwohl er es nicht verdient, in die nächste Klasse aufzusteigen."

Namensstreit als Ausrede

Nicht nur die Politologin, viele mazedonische Bürger glauben, dass der Namensstreit für die EU nur eine gute Ausrede ist, Mazedonien im Beitrittsprozess zu bremsen. Durch diesen Schwebezustand würde Mazedonien allerdings in eine noch tiefere Krise schlittern, ist Vankovska überzeugt. "Nun ist das Land zwischen zwei Euro-Balkan-Nationalismen eingeklemmt und die Antwort wird zweifellos ähnlicher Art sein", prophezeit sie negative Auswirkungen der griechischen und bulgarischen Politik. "Es wird zu einem Anstieg des mazedonischen Nationalismus kommen, der im Gegenzug zusätzliche negative Auswirkungen auf die interethnischen Beziehungen innerhalb des Landes haben wird." Etwa ein Viertel der mazedonischen Bevölkerung sind Albaner.

Anfang Jänner war der UN-Vermittler im Namensstreit, Matthew Nimetz wieder mal in Athen und in Skopje und gab – obwohl der Streit seit fast zwanzig Jahren andauert – wie gewohnt den fröhlichen Optimisten. Es gäbe immer Platz für Kreativität, sagte er, räumte aber zu den Lösungsvorschlägen ein: "Ich bin seit 1994 in die Angelegenheit involviert, also kann ich nicht sagten, dass es wirklich etwas ganz Neues gibt." Griechenland will Mazedonien seinen Namen nicht zugestehen, aus Sorge, das Nachbarland würde damit Gebietsansprüche auf die in Griechenland liegende Region Mazedonien erheben. Mazedonien firmiert deshalb offiziell als Former Republic of Yugoslavia (FYROM).

Entscheidung des Internationalen Gerichtshofes

Toni Deskoski, Experte für Internationales Recht an der Universität in Skopje verweist auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofs aus dem Jahr 2011. In diesem Urteil stellte der IGH fest, dass das griechische Veto zum Nato-Beitritt Mazedoniens im Jahr 2008 eine Vereinbarung der beiden Staaten aus dem Jahr 1995 verletzte, wonach Mitgliedschaften in internationalen Organisationen nicht verhindert werden dürfen. Deskoski sieht darin eine Chance für eine Lösung. Die Namen "Republik Nord-Mazedonien" und "Republik Ober-Mazedonien" zirkulieren schon seit Jahren in Diplomatenkreisen. "Die internationale Gemeinschaft hat Unterstützung gezeigt, mit den jüngsten Entwicklungen um den EU-Beitritt Mazedoniens", so Deskoski. Auch Nimetz Besuch in Skopje sei ein Signal, dass es einen "substanziellen Fortschritt“ in der Frage gebe, meint er. Der EU-Rat hat den Beginn von Beitrittsverhandlungen von dem Fortschrittsbericht der EU-Kommission – und vor allem von Schritten zur Lösung der Namensfrage - abhängig gemacht.

Die EU-Kommission ist einstweilen dazu übergegangen, durch „Gespräche auf höchster Ebene“ eine Art Pseudo-EU-Verhandlungen mit Skopje zu führen. Füle bat Athen ein neues Verfahren an: Statt den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu blockieren, solle der Namensstreit besser im Rahmen der Beitrittsgespräche gelöst werden. Manche Beobachter in Skopje sind dennoch misstrauisch.

"Jeder Hinweis, dass es vielleicht eine Lösung im Namensstreit geben könnte, macht uns eigentlich mehr Sorgen als er Entlastung bringt, denn die Mazedonier sind sich bewusst, dass jegliche Lösung nur auf ihre Kosten erreicht werden würde", meint Vankovska. Nun sei durch die innenpolitische Krise nicht einmal mehr an einen innermazedonischen Konsens im Namensstreit zu denken. (Adelheid Wölfl, DER STANDARD, 16./17.2.2013)