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Nicht zu unterschätzen: Der türkische Premier Tayyip Erdogan (li.) war in seiner Jugend ein starker Kicker. Jetzt treibt er EU-Kommissionschef Barroso an (hier beim Match im Mai 2006 in Wien während der österreichischen EU-Präsidentschaft).

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Kemal Derviş.

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STANDARD: Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei treten wegen Zypern auf der Stelle. Wie kommt man da wieder heraus?

Derviş: Betrachten wir das allgemeiner. Europa muss seine Institutionen neu definieren und neu erfinden. Der britische Premierminister hat es dieser Tage gesagt: Wenn die Schuldenkrise vorbei ist, werden wir eine Eurozone haben, die sehr verschieden von der heutigen sein wird.

Ziemlich jedem ist klar, dass eine stärker integrierte Eurozone kommen wird, in der mehr staatliche Souveränität geteilt wird und wo die Kommission und die Finanzminister mehr Aufsicht über die Mitglieder der Eurozone haben - auch wenn es einige Zeit dauern wird. Einige Staaten, wie Großbritannien, werden nicht bereit oder willens sein, dieses Maß an geteilter Souveränität zu akzeptieren. Wenn es weitere Länder gibt wie Dänemark, Schweden oder in Osteuropa Bulgarien und Rumänien, haben wir möglicherweise zwei Gruppen in der EU.

STANDARD: Was wäre so viel anders gegenüber heute, wo es EU-Mitglieder innerhalb und außerhalb der Euro- oder der Schengenzone gibt?

Derviş: Alle, die heute nicht zur Eurozone gehören, sind verpflichtet, sich darauf vorzubereiten. Die Ausnahme sind Großbritannien und Dänemark mit ihren Sonderklauseln. Die Eurozone ist das Endziel für jeden. Das sieht die gegenwärtige Struktur vor. Ich hoffe und glaube nicht, dass Großbritannien die EU verlässt. Aber wenn sich die Eurozone weiter integriert, werden wir am Ende zum Beispiel auch ein Europäisches Parlament in zwei Formen haben.

STANDARD: Ist eine zweigeteilte EU eine solide Konstruktion?

Derviş: Ich sehe keine Alternative. Ich bin ein Pro-Europäer, ich hätte nichts gegen eine engere Union. Aber ich glaube nicht, dass das geschehen wird. Die Wahl ist: entweder ein international so wichtiges Land wie Großbritannien ziehen lassen oder eine neue institutionelle Lösung finden, in der die Briten Vollmitglieder der EU bleiben können, aber nicht der Eurozone und deren künftigen Mechanismen angehören. Europa sollte sich meiner Meinung nach anstrengen und einen Weg für diese neue Lösung finden.

STANDARD: Das bedeutet für die Türkei?

Derviş: Es ist in diesem Zusammenhang, dass ich sage, die Türkei sollte den laufenden Beitrittsprozess unter einem anderen Gesichtswinkel betrachten, und Europa sollte dasselbe tun. Denn wenn aus der Krise ein neues Europa hervorgeht, dann steht auch die Frage der Mitgliedschaft der Türkei in einem anderen Rahmen. Es mag für beide Seiten leichter sein, wenn die Türkei in dieser neuen Konstruktion - die es noch nicht gibt - einen Status wie Schweden, Großbritannien oder Dänemark hat. Mit weniger geteilter Souveränität, als sie Deutschland, Frankreich und Österreich haben werden.

STANDARD: Das hört sich ein bisschen wie das alte Angebot der "privilegierten Partnerschaft" an die Türkei an.

Derviş: Es ist nicht dasselbe. Großbritannien ist auch kein "privilegierter Partner", sondern volles Mitglied der EU. In einer vorstellbaren neuen Form würde das Europäische Parlament in zwei Sitzungen zusammentreten: Türkische Abgeordnete würden mit britischen und schwedischen Abgeordneten zusammensitzen, nicht mit deutschen. Die türkischen Parlamentarier würden keine Entscheidungen über die Eurozone treffen, aber über andere Bereiche der EU.

STANDARD: Das alles würde nicht das Problem mit Zypern und den nicht ratifizierten Ankara-Protokollen erledigen.

Derviş: Das muss natürlich vorher gelöst werden.

STANDARD: Welche Reaktionen hören Sie aus der Türkei auf Ihren Vorschlag mit den zwei verschiedenen Tickets für eine EU-Mitgliedschaft?

Derviş: Einige halten es für eine gute Idee. Andere sind der Ansicht, wir müssten Mitglied der Eurozone sein, weil wir sonst nicht dort wären, wo die Entscheidungen fallen. Und dann habe ich Freunde, die zu mir sagen: Du bist ein Träumer, vergiss die EU, wir kommen nicht hinein - nicht auf die eine und nicht auf die andere Weise. Ich hoffe, es gibt eine faktenorientierte, kühle Debatte über alle drei Optionen, anstatt weiterzumachen, als ob Europa sich nicht ändern würde. Die Türkei muss sich entscheiden, ob sie den Prozess mit Europa fortsetzen und zu welchem Teil Europas sie gehören will. (Markus Bernath, DER STANDARD, 15.2.2013)