Hat sich sein demokratischer Vorgänger Bill Clinton nach seiner Wiederwahl 1996 noch auf politische Trippelschritte beschränkt, so wählt Barack Obama den umgekehrten Weg: In seiner Rede zur Lage der Nation hat er in der Nacht zum Mittwoch vor dem Kongress ein ehrgeiziges innenpolitisches Programm angekündigt, dessen Umsetzung die USA in eine neue Richtung führen würde - etwas fairer, sozialdemokratischer, ja sogar europäischer.

Von radikalen Ansagen war in der Rede keine Spur - die Anhebung des staatlichen Mindestlohns auf umgerechnet 6,70 Euro ist sicher kein Aufruf zum Klassenkampf. Aber indem Obama neben dem traditionellen Einsatz für die Mittelschicht die heiklen Themen Klimaschutz, Waffenbeschränkungen, Homosexuellenrechte und Einwanderungsreform zur Chefsache macht, stellte er klar, dass er seine Wiederwahl als klaren Auftrag für eine Reformpolitik sieht. Erstmals seit den Siebzigerjahren zeigt sich ein US-Präsident bereit, offen für eine stärkere Rolle des Staates in der Wirtschaft - und damit für mehr Ausgaben und höhere Steuern - einzutreten.

Obamas Rede bildet damit eine vielversprechende Grundlage für seine zweite Amtszeit. In der ersten ist er - mit der Ausnahme der Gesundheitsreform - der Konfrontation mit den Republikanern meist aus dem Weg gegangen; bei seinem Streben nach Kompromissen haben ihn seine Gegner allzu oft auflaufen lassen. Sein Programm ist unverändert, neu aber ist der Stil oder die Taktik.

Doch gerade hier bleiben die Zweifel an der Effektivität des Präsidenten bestehen. Sowohl beim Verhandeln als auch beim Networking vor allem im Kongress hat Obama bisher die größten Schwächen gezeigt. Und nichts von dem, was er nun will, kann er gegen eine geschlossene Front der Republikaner durchsetzen. Diese hatte sich zuletzt etwas brüchig gezeigt, etwa bei den Verhandlungen über Steuererhöhungen und beim Thema Einwanderung. Doch gerade der angriffige Ton seiner Rede dürfte die Republikaner in ihrer Ablehnung bestärken - und schärfere Waffengesetze oder eine neue Klimapolitik fast unmöglich machen.

In der Budgetpolitik ist kein Platz für große Investitionen in Zukunftsbereiche; die Herausforderung für das Weiße Haus besteht derzeit darin, die bevorstehenden automatischen Kürzungen so weit abzumildern, dass das Land nicht in eine Rezession stürzt. Auch der angekündigte Truppenabbau in Afghanistan bringt keine finanzielle Erleichterung: In Wirklichkeit ist dies ein Rückschritt gegenüber früheren Abzugsplänen.

Vor allem aber hat Obama keinen Weg skizziert, um den gigantischen Schuldenberg der USA abzubauen. Sein Versprechen, die geplanten Ausgaben würden das Defizit um keinen Cent erhöhen, ist nicht glaubwürdig. Um neue Programme zu finanzieren, braucht es höhere Steuern; doch die sind politisch kaum durchsetzbar.

Wenn Obama auch die stille, eher konservative Mitte der Gesellschaft für seine Pläne mobilisieren will, muss er einen langfristigen Plan zur Budgetsanierung vorlegen. Doch das geht nur mit Einschnitten bei den Gesundheits- und Pensionsausgaben, und darauf hat er weitgehend verzichtet. Das freut die Parteibasis, verringert aber die Chancen auf eine tatsächliche Wende in der Wirtschaftspolitik. Die Politik in Washington wird weiterhin vom alten Patt beherrscht werden - und nicht vom Geist einer neuen Ära. (Eric Frey, DER STANDARD, 14.2.2013)