Im ausgehenden 19. Jahrhundert hieß die zweitgrößte tschechische Stadt Wien. Jeder vierte Einwohner der k. u. k. Hauptstadt stammte aus Böhmen oder Mähren, und viele von ihnen schufteten in den Ziegelwerken in Favoriten. Wien erlebte damals den größten Aufschwung seiner Geschichte, den die Arbeiter mit bis zu 15-stündigen Schichten bezahlten. An den wenigen freien Tagen aber gingen die "Ziegelböhm", wie man sie nannte, ins Grüne hinaus und hinauf auf den Laaer Berg, um sich abzulenken.

Franz Bauer, der geschäftige Kantinenwirt der Ziegelei Wienerberger, erkannte mit der Zeit, dass die Ausflügler stets ihre eigene Verpflegung mitbrachten. Also suchte er um die Eröffnung einer Gaststätte an, die zum Grundstein eines neuen Vergnügungsparks werden sollte. Nach der Herkunft seiner Besucher war dieser in der ganzen Stadt bald nur mehr als Böhmischer Prater bekannt.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

1882 expandierte Bauer. Er beantragte die Konzession für "erlaubte Spiele", stellte ein Ringelspiel im Garten auf und daneben eine Hutsche. Nur wenige Wochen später tat es ihm Anton Swoboda, ein Wirt aus dem Wurstelprater, gleich. 1884 gab es bereits 20 Wirtshäuser und viele Schausteller, Wurfbuden, Tanzböden, Kettenkarusselle und Kegelbahnen.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Nach dem Ersten Weltkrieg fand der Böhmische Prater rasch wieder zu seiner alten Popularität zurück. Der Zweite setzte ihm aber ärger zu. In der Nachkriegszeit verschwand der von Brandbomben eingeäscherte Amüsierpark fast aus der Erinnerung.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Erst in den 1970er Jahren eröffneten in einer Nostalgiewelle neue Fahrgeschäfte, und der Park erhielt sein heutiges Gesicht. Um den Fortbestand zu sichern, kaufte die Stadt Wien im Jahr 1986 das 5.000 Quadratmeter große Areal in Favoriten.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Weil den Böhmischen Prater kein öffentliches Verkehrsmittel anfährt, haben die Wiener Grünen 2010 einen Shuttlebus vom Reumannplatz eingerichtet. Am Ende der Saison wurde die Verbindung aber genauso eingestellt, wie der im darauf folgenden Jahr von lokalen Unternehmern initiierte Pendelbus.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

So erreicht man das kleine Gelände heute wieder nur per Fußmarsch oder Autofahrt. Der Andrang hält sich mithin schon in den wärmeren Monaten in Grenzen. Im Winter, wenn die Fahrgeschäfte versperrt sind, scheint der Böhmische Prater fast ausgestorben.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Nur vereinzelt finden dick eingepackte Spaziergänger ihren Weg über die Allee, die den bunten Freizeitpark in zwei schneebedeckte Hälften teilt.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Hie und da fahren Menschen in Autos durch die Straße, der Böhmische Prater ist ihnen aber nur Transitroute. Sie parken am nahen Otto-Geißler-Platz und stapfen in Richtung der Rodelhügel und der Teiche, die die "Ziegelböhm" zur Lehmgewinnung aus dem Laaer Berg gegraben haben.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Manche der Spaziergänger verschwinden auch hinter den gold verspiegelten Türen des privaten Casinos am südöstlichen Ende des Parks. Wie der Türsteher mit Nachdruck erklärt, dürfen sich dort aber nur jene an einem Heißgetränk wärmen, die auch bereit sind zu spielen.

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger

Draußen bemerkt man von den blinkenden Lichtern und den gebannten Augen, die auf Spielautomaten starren, nichts. Da sieht der Böhmische Prater aus wie ein Rummel von gestern. Da scheint - ein Euro ins Phrasenschwein - die Zeit stillzustehen. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 15.2.2013)


Links
böhmischerprater.at
Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie: Böhmischer Prater

Weitere
Bilder aus dieser Serie finden Sie unter nulleffekt.net


 Literatur
Karl Pufler (1999): Wo der Ziegelböhm tanzte ...
Wolfgang Slapansky (1991): Das kleine Vergnügen an der Peripherie


Größere Kartenansicht

Foto: derStandard.at/Michael Matzenberger