Inhalte des ballesterer Nr. 79 (März 2013) – Seit 13.2. im Zeitschriftenhandel!

SCHWERPUNKT: BRASILIEN

WM-BAUSTELLEN
Brasilien 500 Tage vor Anpfiff der Copa 2014, eine Reportage aus Rio und Salvador

MEHR ALS FOLKLORE
Die Spiele der indigenen Völker Brasiliens

NAH DRAN UND EINDRUCKSVOLL
Die Kurvenporträts von Fotograf Gabriel Uchida

ALS ÖSTERREICH NOCH BRASILIANISCH SPIELTE
Gefühlter Sieg im Freundschaftsspiel 1971

Außerdem im neuen ballesterer:

KAMPF UM DEN PROFIFUSSBALL
Ein Ausblick auf das Regionalliga-Frühjahr

RITZINGER RÄTSEL
Eigenartige Finanzkonstruktionen im Mittelburgenland

»ES GEHT UM WAFFENGLEICHHEIT«
Drei Juristen erklären, warum immer mehr Fans Anwälte brauchen

DOPING IM FUSSBALL
Journalist Daniel Drepper im Interview

ABSCHIED EINES ÜBERLEBENDEN
Erinnerungen an Israels einzigen WM-Trainer Emanuel Schaffer

PRESSECORNER
Bedrohliche Admira-Fans und andere Schauermärchen

TAKTIK TOTAL
Der Kreativspieler

ARMER ASHLEY
Clemens Berger ist der »13. Mann«

GROUNDHOPPING
Matchberichte aus Deutschland, Italien und Spanien

Cover: Ballesterer

Paulo Vinicius Coelho: "Die aktuelle Nationalmannschaft ist zu jung. Wir haben Spieler mit Qualität, aber es fehlt ihnen an Erfahrung."

Foto: Ballesterer

ballesterer: Der brasilianische Verband hat im November Teamchef Mano Menezes gefeuert und ihn durch Felipe Scolari ersetzt. Haben sich die Chancen, dass Brasilien 2014 seinen sechsten Weltmeistertitel feiert, dadurch erhöht?

Paulo Vinicius Coelho: Brasilien hätte mit beiden Trainern Weltmeister werden können. Menezes hat einen modernen, europaorientierten Fußball spielen lassen – mit wenig Raum für den Gegner und viel Druck gegen den Ball. Scolari hat ein anderes, altmodischeres Spielverständnis. Sein Fokus wird darauf liegen, eine starke Turniermannschaft zu bilden. Ich würde von der brasilianischen Nationalmannschaft lieber zeitgemäßen Fußball sehen, aber die Fans begrüßen seine Rückkehr. Scolari kann der Mannschaft das Gefühl geben, dass sie Weltmeister werden kann. Er ist charismatischer und widerstandsfähiger als Menezes und hat mehr Erfahrung.

Was sagt die Bestellung von Felipe Scolari über die Machtstrukturen im brasilianischen Fußball?

Coelho: Es war eine politische Entscheidung, keine sportliche. Der neue Verbandspräsident Juan Maria Marin wollte der Öffentlichkeit zeigen, wer das Zepter in der Hand hält, und signalisieren, dass er alles für den Erfolg Brasiliens bei der WM 2014 tut. Abgesehen davon steckt kein weitergehender Plan dahinter. Die Entlassung von Menezes ist schwer mit Resultaten zu begründen, Marin wollte seine Macht demonstrieren. Sein Vorgänger Ricardo Teixeira hat bei seinem Abgang im Vorjahr Andres Sanchez, den früheren Präsidenten von Corinthians, als Sportdirektor des Nationalteams in­stalliert. Marin hat Sanchez nicht ertragen. Menezes war das Bauernopfer, um Sanchez loszuwerden.

Im Nachfolgerennen hat sich auch Pep Guardiola ins Spiel gebracht, aber Marin war gegen einen ausländischen Teamchef. Teilen Sie diese Ansicht?

Cuelho: Es wäre wahrscheinlich ein zu hohes Risiko gewesen, eineinhalb Jahre vor der Heim-WM einen ausländischen Trainer zu verpflichten. Der brasilianische Fußball sollte sich aber mehr für Einflüsse von außen öffnen. In den 1930er Jahren hat der Ungar Dori Kürschner als Flamengo-Trainer das WM-System nach Brasilien gebracht. Auch Bela Guttmann hat einen großen Einfluss auf die Weiterentwicklung des brasilianischen Fußballs gehabt, als er in den 1950ern den FC Sao Paulo trainiert hat. Jetzt braucht Brasilien wieder neue Ideen. Bei uns haben die Spieler traditionell mehr Raum als im europäischen Fußball gehabt, und das ist – wenn auch abgeschwächt – immer noch der Fall. Auch im Nachwuchsbereich besteht großer Aufholbedarf. Wir glauben, dass wir alles über den Fußball wissen, aber das ist ein Irrtum.

Welche Probleme muss Scolari jetzt lösen?

Coelho: Die aktuelle Nationalmannschaft ist zu jung. Wir haben Spieler mit Qualität, aber es fehlt ihnen an Erfahrung. Bei der Copa America vor zwei Jahren war Neymar 19 Jahre alt, Pato war 20 und Ganso 21. Das Spiel war auf sie ausgerichtet. Wenn ich auf die großen Spieler des brasilianischen Fußballs zurückblicke – Didi, Garrincha, Zico, Falcao, Socrates, Careca, Romario –, war keiner von ihnen mit 20 Jahren Stammspieler. Nur zwei Ausnahmespieler haben in so jungen Jahren bereits Schlüsselrollen innegehabt. Pele war 17, als er zum ersten Mal Weltmeister wurde, aber er hatte erfahrene Kaliber wie Didi, Bellini und Zito an seiner Seite. Ronaldo ist von Dunga, Romario und Bebeto unterstützt worden. Ähnliches ist aktuell nicht der Fall. Neymar, Ganso und Lucas haben keine Routiniers neben sich. Das Problem ist, dass Brasilien nicht über Ausnahmespieler im Alter von 26 oder 27 verfügt. Es gibt Neymar mit 21 und Kaka mit 30. Scolari gibt jetzt Ronaldinho noch eine Chance, er ist sich aber selbst nicht sicher, ob das aufgeht.

Einer der schärfsten Kritiker von Menezes ist Romario. Was halten Sie von seinen Zwischenrufen?

Cuelho: Romario war ein großartiger Fußballer, aber seine neue Rolle als Politiker lässt sich nicht mit seinen Kommentaren zum Fußballgeschehen vereinbaren. Natürlich werden wir immer hinhören, wenn Romario etwas sagt, aber wenn er ernst genommen werden will, sollte er sich einen Job im Fußball suchen. Ich weiß nicht, ob im Verhältnis zwischen Menezes und seinen Agenten alles sauber war, aber Romario weiß es auch nicht. Romario will aus seinen Kommentaren politisches Kapital schlagen, aber manchmal wäre es besser zu schweigen.

Wenn man sich in Brasilien umhört, entsteht der Eindruck, dass die Fußballfans kein großes Interesse an den Freundschaftsspielen der Nationalmannschaft haben.

Coelho: Ich sage immer, dass sich die Liebe der Brasilianer zu ihrem Nationalteam nur bei Niederlagen zeigt. Wenn sie gewinnen, ist es okay, aber nicht mehr. Wenn sie verlieren, ist es das Ende der Welt. Die Leute beschweren sich über den Verband und beklagen, dass die aktuellen Spieler nicht so gut sind wie die alten Größen. Vielen ist die tägliche Beziehung zu ihrem Klub wichtiger, aber wenn die WM angepfiffen wird, ändert sich das schlagartig. Dann sehen es die Brasilianer als Pflicht, dass ihr Team den Titel holt.

Vergangenes Jahr hat Ricardo Teixeira als Verbandspräsident abgedankt. Nach 23 Jahren, die von Vorwürfen der Korruption und Freunderlwirtschaft überschattet waren. Hat sich im Verband seither etwas verändert?

Coelho: Nein. Teixeira bekommt als Berater sogar weiterhin Geld vom Verband. Er ist von der Spitze geflohen, hat aber seinen Vizepräsidenten zum Nachfolger gemacht. Es hat sich nichts geändert. Der Verband wird von konservativen Machtpolitikern geführt, und es gibt keine starke Lobby der Klubs, die zur dringend benötigten Gewaltenteilung im brasilianischen Fußball beitragen könnte. Ich kann nicht sagen, ob die aktuelle Führung mehr oder weniger korrupt ist als die alte, aber der Stil ist derselbe geblieben.

Wie kann sich das ändern?

Coelho: Ich bin in den 1970ern und 1980ern aufgewachsen und habe lange nicht an Brasilien geglaubt. In den 1990ern hat sich das Land verändert. Nicht wegen des damaligen Präsidenten, sondern wegen der Leute. Brasilien hat Brasilien verändert, nicht die Regierung. Ich weiß nicht, wann es so weit sein wird, aber im Fußball muss dasselbe passieren. Ein paar Sachen haben sich schon gewandelt. Inter hat seine Agenten nach Brasilien geschickt, um Lucas und Paulinho zu verpflichten, aber sie sind mit leeren Händen nach Italien zurückgekehrt. Manchester United ist es ähnlich ergangen, und auch Neymar spielt immer noch bei Santos. Die Gründe dafür sind höhere TV-Gelder, finanzkräftigere Sponsoren und neue Stadien. Unsere Stadien sind zwar immer noch nicht voll, und wir können uns nicht mit einer Liga wie der englischen Premier League messen, aber die Klubs haben beim Marketing, Merchandising und der Infrastruktur noch viel Luft nach oben. Der Zug hat sich in Bewegung gesetzt. Irgendwann wird er die alten Herren im Verband überrollen.

Die Zuschauerzahlen in der nationalen Meisterschaft sind immer noch enttäuschend, in der abgelaufenen Saison haben durchschnittlich 13.000 Fans die Spiele besucht. Warum macht sich der wirtschaftliche Aufschwung hier noch nicht bemerkbar?

Coelho: Brasilien hat sich immer als das Land des Fußballs bezeichnet. Ich denke, das stimmt auch, wenn es ums Spielen geht. Die Brasilianer lieben es, Fußball zu spielen – am Strand, auf der Straße, in der Favela. Aber es trifft nicht zu, wenn es ums Zuschauen geht. Leute, die sagen, dass es früher besser gewesen sei, täuschen sich. Tatsächlich waren die Stadien immer nur bei großen Spielen voll. Wenn Flamengo in einem entscheidenden Spiel auf Vasco getroffen ist, war das Maracana immer ausverkauft. Bei weniger wichtigen Matches hat es aber seit jeher anders ausgesehen. In Brasilien ist es verabsäumt worden, eine Zuschauerkultur wie in Europa zu etablieren. Corinthians hat erst vergangenes Jahr das Dauerkartenprogramm »Fiel Torcedor« ins Leben gerufen, das den Fans, die alle regulären Spiele besuchen, Vorteile bei außertourlichen Partien wie dem Copa-Libertadores-Finale einräumt. Jahresabobesitzer haben sich mit einem Vorverkaufsrecht Karten für rund 13 Euro sichern können, während andere Fans ein Vielfaches davon bezahlen mussten. Solche neuen Aktionen werden ihre Wirkung nicht verfehlen. Andere Klubs werden nachziehen, und das wird die Fans enger an ihren Verein binden. Aber hier stehen wir erst am Anfang.

Das Interesse an den regionalen Meisterschaften ist noch viel geringer. Sehen Sie eine Zukunft für diese traditionsreichen Bewerbe?

Coelho: Bis 1987, als sich die größten brasilianischen Vereine im »Clube dos 13« organisiert haben, sind die Bundesstaatsmeisterschaften im Fokus des Interesses gestanden. Das ist auch der Grund, warum Brasilien nicht über drei oder vier, sondern über viel mehr große Klubs verfügt. Jede dieser regionalen Meisterschaften hat zwei, drei oder vier große Klubs hervorgebracht, die mit diesem Selbstverständnis in die nationale Meisterschaft gegangen sind, die mit dem Meistercup in Europa vergleichbar war. Die Bundesstaatsmeisterschaften haben viel an Bedeutung eingebüßt, aber die nationale Meisterschaft muss noch stärker zum Saisonhöhepunkt werden. Brasilien hat eine Fläche von acht Millionen Quadratkilometern und 20 Vereine in der ersten Liga. Italien ist 300.000 Quadratkilometer groß und hat genauso viele Klubs in der höchsten Spielklasse. Dort kommt aber niemand auf die Idee, die großen Teams gegen unbedeutende Provinzmannschaften antreten zu lassen. Ich bin dagegen, die regionalen Meisterschaften abzuschaffen, aber es braucht eine radikale Reform. Kleinere Klubs sollen sich dort messen und dann ein Finale gegen einen der Großen austragen. Aber im Moment drängt niemand auf eine Veränderung – weder die Klubs noch der Verband noch die Fans. (Reinhard Krennhuber, derStandard.at, 13.2.2013)