Gilbert Kaplan: "Eigentlich wollte ich Mahlers Musik nur einmal dirigieren. Und jetzt bin ich in Wien. Das ist eine große Ehre."

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STANDARD: Ein gigantisches Werk wie Mahlers Zweite, reduziert auf Kammerorchesterformat: Kann so etwas überhaupt funktionieren?

Kaplan: Dazu muss ich zuerst sagen: Das Projekt ist entstanden, weil ein guter Freund von mir, der Dirigent eines Orchesters einer Kleinstadt, das normalerweise mit 50 oder 60 Musikern spielt, Mahler aufführen wollte. Ein einziges Mal haben sie es geschafft, seine Zweite mit 110 Leuten zu spielen. Aber sie haben zwei Jahre damit verbracht, das Geld aufzutreiben. Und dann waren sie pleite. Ich fand es ungeheuer schade, dass so viele Orchester nie Gelegenheit haben würden, Mahler zu spielen. Aber es gab ja schon viele Versuche, Mahlers Musik für kleinere Besetzungen zu bearbeiten, für zehn oder zwölf Instrumente, die sehr interessant sind, aber natürlich ganz anders klingen. Das hat mich auf die Idee gebracht, zusammen mit dem Arrangeur Rob Mathes eine Version zu machen, die es jedem Kammerorchester ermöglicht, die Zweite zu spielen.

STANDARD: Sie tun das am Sonntag mit 56 Musikern - etwa die Hälfte dessen, was Mahler vorschreibt.

Kaplan: Das ist kein so kleines Orchester. Es ist größer als bei Beethovens Fünfter oder Brahms' Erster. Und interessanterweise hat Mahler bei der Zweiten zuerst nur einen ersten Satz geschrieben und dann erst nach fünf Jahren den zweiten. Den ursprünglichen ersten Satz (mit dem späteren Titel "Todtenfeier", Anm.) schrieb er für ungefähr unsere Orchestergröße!

STANDARD: Musste es bei der Instrumentation Kompromisse geben?

Kaplan: Wenn Sie zum Beispiel zwei Celli haben, und Sie möchten die doppelte Lautstärke, dann brauchen Sie nicht vier, sondern sechs oder sieben. Wenn Sie die sechs Hörner von Mahler auf drei reduzieren, so wie wir das machen, verlieren Sie ebenfalls nicht die halbe Kraft - obwohl natürlich schon etwas verlorengeht. Wie viel das ist, wird man sehen. Außerdem spielen die sechs Hörner bei Mahler meistens nicht mehr als drei verschiedene Töne. Und wenn Sie - um ein anderes Beispiel zu nennen - vier Posaunen durch zwei Posaunen und zwei Hörner ersetzen, die aber um einen Tick leiser spielen, meint jeder, vier Posaunen zu hören. Wir haben unsere Fassung natürlich schon ausprobiert, und die kräftigen Passagen klangen alle wirklich kräftig. Es geht ja auch niemand aus einem Konzert mit Brahms oder Beethoven heraus und beklagt sich darüber, das Orchester sei zu klein gewesen.

STANDARD: Die Wurzeln Ihres Projekts haben ja auch mit einem kulturpolitischen Problem zu tun: der mangelnden Unterstützung von Kultur durch die öffentliche Hand in den Vereinigten Staaten, die es nötig macht, private Spenden zu lukrieren. Ändert sich die Rolle der Kunst durch die Geldgeber?

Kaplan: Die Frage nach öffentlicher und privater Unterstützung wird mir oft gestellt, wenn ich in Europa bin. Sie hängt natürlich damit zusammen, welchen Einfluss die Geldgeber auf die Institutionen ausüben, die sie unterstützen. Ich bin seit 40 Jahren Vorstandsmitglied der Carnegie Hall, und es ist noch nie vorgekommen, dass jemand für eine Spende gefordert hat, dass ein bestimmter Künstler auftritt. Außerdem erhält die Metropolitan Opera mehr Geld von der amerikanischen Regierung als die Wiener Staatsoper vom österreichischen Staat.

STANDARD: Wie bitte?

Kaplan: Wenn Sie der Staatsoper 1000 Euro spenden, geht das Geld von Ihrem Konto dorthin. Wenn ein Amerikaner 1000 Dollar der Met gibt, kann er das steuerlich absetzen. Sagen wir, er zahlt 50 Prozent Steuern, dann erhält die Oper 1000 Dollar, auf seinem Konto fehlen am Ende des Jahres aber nur 500. Der Rest kommt von der Regierung, die auf diese Weise eine große Unterstützung leistet.

STANDARD: Besteht nicht die Gefahr, dass sich kulturelle Institutionen so in allzu große Abhängigkeit von privaten Spendern begeben?

Kaplan: Nein, im Gegenteil. Dadurch, dass es in Amerika viele Einzelpersonen sind, die Geld geben, ist die künstlerische Leitung vollkommen frei, ihr Programm umzusetzen. Vielleicht gibt es einmal Meinungsverschiedenheiten mit einem Spender, aber wenn der geht, kommt jemand anderer. Demgegenüber müssen Sie zugeben, dass die Regierungen in Europa einen ungeheuren Einfluss auf die Kulturpolitik haben.

STANDARD: Zurück zu Mahler. Sie haben sich Ihr Leben lang mit der Zweiten beschäftigt, nachdem Sie 1965 eine Aufführung mit Leopold Stokowski hörten. Sicher wurde Ihnen die Frage oft gestellt, warum es genau dieses Werk war, ob es auch ein anderes hätte sein können.

Kaplan: Das wurde ich oft gefragt, aber nicht auf diese Weise. Die Antwort ist natürlich, dass ich es nicht weiß, weil ich die ganze Musik von Mahler liebe. Ich glaube, es war einfach Schicksal. Dass ich die Zweite dirigieren wollte, lag daran, dass ich sie wirklich verstehen wollte. Eigentlich wollte ich das nur einmal ausprobieren; alles andere hat sich daraus ergeben. Und jetzt bin ich hier in Wien, um Mahler zu dirigieren. Das ist eine große Ehre - in der Stadt, in der er lebte. (Daniel Ender, DER STANDARD, 13.2.2013)