Bild nicht mehr verfügbar.

Luchse fanden in den isolierten Regionen des Böhmerwaldes ein ideales Habitat.

Foto: Corbis/Konrad Wothe

Böhmerwald im milden Winter, zwei Weißwurstlängen und einen Grenzübertritt vom Nationalpark Bayerischer Wald entfernt: Kartoffelpuffer mit Schinken und - gezuckertem - Sauerkraut bestellen die Langläufer unter den dicken Tramen des Hotel Modrava - und hinterher Medovník, Honigtorte vom Prager Großbäcker.

So wirklich kochen und backen, das heißt mit Herz und böhmischer Seele, ist im abgelegenen Modrava nicht drin. Dafür genießen die Gäste ein wohlig-schauriges Gerücht, das auf dem Tisch soeben die Runde macht. Es lautet: Wölfe im Wald! Nicht dass sie deren Spuren mit eigenen Augen gesehen und identifiziert hätten. Sie könnten auch von Hunden stammen. Flockis, die den Langläufern und Winterwanderern hinterherhecheln, finden sich im umliegenden Märchenwald überall - das beweist selbst ein flüchtiger Blick auf die Loipen, die dem Sumava-Nationalpark winterliche Spurrillen verpassen.

Böhmerwälder Safari-Bilanz

2010 wurden die ersten Tiere gesichtet, wenngleich nur als sporadische Gäste, und sie bereichern seither eine Böhmerwälder Safari. Wobei: Die zoologische Bilanz ist durchwachsen. Luchse? Vermehren sich wie Karnickel, hört man am Stammtisch des Hotel Modrava. Die in den 1980er-Jahren in Angriff genommene Wiederansiedlung gilt längst als voller Erfolg. Auch Rothirsche hirschen ausreichend durch die Bergfichtenwälder, Wildschweine, Füchse, Dachse und Marder sowieso. Mitunter tappen sogar Fischotter, Biber, Waschbären und Wildkatzen in die Fotofalle. Andere Arten geben indes Anlass zur Sorge: Die Elchpopulation beim weiter östlich gelegenen Moldaustausee kommt hier wegen der Insellage nicht so recht vom Gen-Pool-Fleck. Und von den Auerhähnen - den Wappentieren des Sumava-Nationalparks - könnte es auch ruhig mehr geben, zumal sie die gesperrten Kernzonen ganz im südlichen Teil des Parks für sich beanspruchen.

Weniger populär unter den Besuchern sind freilich die seltenen Spinnenarten aus der Nacheiszeit, die in den Restposten einer urwaldähnlichen Vegetation Nischen zum Überleben fanden. Ihre Lebensräume, etwa das schmatzende Hochmoor oberhalb von Borová Lada, gefallen dafür umso mehr. Der nördlich anschließende Urwald des Naturschutzgebiets Boubínský prales gilt zudem als Relikt eines Böhmerwälder Bergmischwalds, dessen heute 400 Jahre alte Fichten bereits die Schwarzenbergs unter Schutz gestellt hatten.

Zurück im Modrava Hotel. Von den Spinnen ist hier nicht viel zu sehen, und statt der Wölfe im Wald heult bloß Robbie Williams aus dem Lautsprecher. Die Angst ging dennoch um in diesem Jänner. Zumindest unter den Langläufern, die hier von Jirí Franc und Dalibor Hiric, Natur-Guides und Langlaufführer in Personalunion, untergebracht wurden. Denn die Schneemänner schwächelten, daran konnte auch das Datum nichts ändern. Der Kalte Krieg, der dem gesperrten Grenzgebiet eine grüne Verschnaufpause gönnte und es nun zum naturbelassenem Langlauftipp macht, ist längst vorbei. Doch die Tage einer Rekordkälte, die den umliegenden Talkesseln bereits früh im Winter minus vierzig Grad bescherten, sind es offensichtlich auch.

Alle Motive mit Schneehauben

Seit Anfang Februar ist hier aber wieder alles so, wie es sein soll: Die Loipen in der Region haben ihre Unterlage von ganz oben zurückbekommen: Der Himmel ist wieder häufiger bedeckt und also sind es auch die Wiesen. Dass Herr Franc ohnehin mit Schnee gerechnet hatte, verriet aber auch ein Blick ins mitgebrachte Netbook: Bilder vom alten Forstgut Antýgl sprangen da auf, von historischen Steinhäusern in der Bauweise der Böhmerwaldarchitektur - jedenfalls trugen alle seine Motive dicke, weiche Hauben aus Schnee. Vor einem halbem Jahrtausend siedelten hier erste Freibauern, angelockt von ein wenig Autonomie als Anreiz für einen Wohnort, an den es auch damals kaum jemanden zog. Die Glashütte, die sie in Antýgl - vom deutschen "Ein Tiegel" - unterhielten, erlosch vor zweihundert Jahren. Heute brennen hier höchstens Camping-Kocher im Sommer.

Übergangszone ist die Gegend aber geblieben: Der Böhmerwald liegt am Scheideweg zwischen atlantischem und kontinentalem Klima, der Nationalpark Sumava auch am Scheideweg zwischen Natur und Kommerz - Rotkäppchen-Romantik hin, Märchenwald her. Und das eingangs erwähnte Wolfsrudel - man ist sich nicht so sicher, ob man es wollen soll. Selbst beim Borkenkäfer wogt die emotional geführte Diskussion hin und her: zwischen den Hardlinern der Wald-Selbstreinigungstherapie und jenen der Festmeter-Lobby. Das südliche Lüfterl, das den Baumkiller nach Norden verbläst, wird von bayerischer Seite jedenfalls gelassener gesehen als im Sumava-Gebiet, das an wirtschaftlich wichtige Forstbetriebe grenzt.

Und dennoch: Herr Franc hat nicht zu viel versprochen. Herrlich winterlich ist die Gegend in den Höhenlagen, wo die Schneedecke oft bis zu 150 Tage im Jahr liegen bleibt. Völlig unbeeindruckt von der Großwetterlage schweigt hingegen der Schwarzenbergische Schwemmkanal, der im 18. Jahrhundert die kontinentale Wasserscheide überbrückte. Und das ist auch gut so - bleibt mehr Ruhe für das Rauschen der Vydra, dem vielleicht spektakulärsten Wildfluss in einer Waldregion, die mit fesch verstreuten Gneis-Steinblöcken aufwartet. Und es bleibt natürlich auch Ruhe für das 450 Kilometer lange Loipennetz, das ins einsame Niemandsland nahe der historischen Grenze oder im nördlichen Hinterland des Sumava-Nationalparks zu weiteren winterlichen Vergnügen führt.

Bei Zelezná Ruda, dem Endpunkt der Bahnlinie, die den Böhmerwald 1877 an Prag heranrückte, machen einige der wie rundgelutscht wirkenden Böhmerwaldbuckel sogar ein bisschen auf Gebirge. 1902 wurden hier erste nationale Skirennen ausgetragen, bei Spicák fallen die Hänge gar zur steilsten Piste Tschechiens ab. Spitzberg bedeutet dieses Spicák auf Deutsch, doch ganz so scharf ist die dazugehörige Turistická-Piste nicht. Vielmehr verteilen sich kinderleichte Schlepplifte mit dem gewissen Pudelmützen-Charme über die Falten des zerknitterten Landes. Schön, weil nahe der Burg Kasperk, liegt zudem das Skigebiet Kasperské Hory - einst Zentrum der Goldwäscherei, dessen Revival heute heiß diskutiert wird.

Noch mehr Historie am Rande des größten Waldes Mitteleuropas bietet die 1880 errichtete Bergsynagoge von Hartmanice. Kvilda hat dagegen seine alte Holzkirche, ferner ein kleines Museum, in dem die Schlitten, Baumsägen und handgeschnitzten Holzschuhe der alten Gemeinde zu sehen sind - und ein Stück jener interessanten Kanalrohre aus Holz, auf die Bauarbeiter bis heute stoßen. Von hier führt ein Wanderweg zur verlassenen Gemeinde Bucina, dem ehemaligen Buchwald, und eine Loipe sowieso. Nicht mit den Dorfbewohnern über Nacht verschwunden sind: der schöne Alpenblick und auf dem Weg nach Finsterau die Gedenkstätte für den Eisernen Vorhang.

Grenzfälle und Fellfarben

Vor allem aber die Erinnerung an die historischen Wechselfälle in der Region ist geblieben. Sie reicht im Falle Bucinas bis in das 14. Jahrhundert zurück, als ein Handelsweg zwischen Böhmen und Bayern durch den Urwald und weiter auf den Böhmerwaldkamm führte. Dort sind im 18. Jahrhundert erste Holzfällerhütten entstanden und Ortsnamen wie Teufelsbach oder Froschau.

Von der Freiheit der Tiere, die stets ungehindert über die Grenze wetzten, unabhängig von der Art und Farbe ihrer Felle und Federn, konnten die Siedler der nachfolgenden Jahrzehnte aber nur träumen: 1938 wurde Buchwald Teil des Deutschen Reiches, wenige Jahre später der Tschechoslowakei zugeschlagen. Schauplatz ethnisch motivierter Vertreibung war es in beiden Fällen. Nach den Menschen ging es den Häusern an die Substanz: 1956 wurden alle Bauten abgerissen, nur Kreuz und Schwert durften bleiben: in Form der 1891 errichteten Kapelle des Heiligen Michael sowie eines Hotels, das zunächst Kaserne war und nun als Hotel Peslova chata Winterwanderern Gambrinus-Bier serviert.

Unbeeindruckt davon gurgelte während der ganzen Zeit die gerade einmal zwei Kilometer entfernte Quelle der Moldau - heute ein weiteres beliebtes Ziel der Langläufer. Blicke auf Berge wie weiche Böhmerwalder Knödel begleiten jetzt das Gleiten dorthin - und außerdem das Gefühl, dass längst alles auf Spur ist. (Robert Haidinger, DER STANDARD Album, 11.2.2013)