Vor einem Jahr, am ersten Jahrestag des Falls des Regimes von Hosni Mubarak, waren die Parlamentswahlen in Ägypten bereits geschlagen. Sie hatten den Islamisten - Muslimbrüdern und Salafisten zusammen - eine absolute Mehrheit gebracht. Dennoch wurde die entscheidende politische Auseinandersetzung für die Übergangszeit damals noch als jene zwischen der Armee - die am 11. Februar 2011 Hosni Mubarak heimgeschickt hatte, weil er ihr mehr schadete als nützte - und den zivilen Kräften wahrgenommen.

Die Armee gab die Macht nach den Parlamentswahlen nicht ab, bis im Sommer die alten Kräfte auch noch die Präsidentenwahlen verloren. Das Blatt begann sich mit dem Sieg Mohammed Morsis zu wenden. Angesichts der neuen Realitäten zeigte sich die Armee pragmatisch - wobei ihr Sonderstatus von den neuen Herren bisher nicht ernsthaft angetastet wurde. Wenn Morsi in den vergangenen Monaten irgendein Geschick bewies, dann jenes, sein Verhältnis zu den Militärs neu zu ordnen. Aber "weg" ist die Armee natürlich nicht: Sie wird immer ihre Interessen - die sie praktischerweise als identisch mit denen des Landes sieht - im Auge haben, und es ist offen, wie lange sie sich mit denen des neuen islamistischen Establishments decken werden.

Denn ob Morsi die derzeitige Situation wieder unter Kontrolle bringt, ist ungewiss. Die Militärs, die die Macht so lange nicht abgeben wollten, wurden - aus islamistischer Perspektive - abgelöst von gesellschaftlichen Kräften, die eine durch einen demokratischen Prozess entstandene legitime Ordnung nicht akzeptieren. Das wird beim Blick von außen auf die aktuellen Unruhen meist vergessen: Morsi, die Regierung, auch die defekte Verfassung, sie alle sind in der Tat durch Wahlen legitimiert.

Dass eine Demokratie keine absolute Herrschaft einer Mehrheit ist, die sich bei Wahlen ergibt (und sich wieder ändern kann), sondern ein ständiger Verhandlungsprozess aller Gruppen, das übersteigt das  politische Know-how der Islamisten. Und das größte Pech ist, dass in islamistischen Augen im Wahljahr 2012 der Souverän Volk so entschieden hat, wie die Islamisten glauben, dass der echte Souverän, Gott, es will. So kommen die Todes-Fatwas all dieser eifrigen Scheichs zustande, die sich gegen Oppositionelle richten.

Dennoch muss man das Bild zurechtrücken, dass es dabei nur um ein Ringen von Nichtreligiösen mit Religiösen geht. Nur ein Beispiel: Der "Tahrir-Prediger" Mazhar Shahin, Imam an der Omar-Makram-Moschee direkt am Platz, erhob am Freitag seine Stimme gegen die Muslimbrüder und Morsi und erinnerte ihn daran, wem er seinen Posten verdankt: denen, die jetzt wieder demonstrieren.

Wer genau das ist, so klar ist das aber auch nicht. Unter "die Opposition" versteht man jetzt meist die Gruppe dreier älterer Herren mit dem unwahrscheinlichen Namen "Rettungsfront": ein Nasserist (Hamdin Sabbahi), ein Exfunktionär Mubaraks (Amr Moussa) und ein früherer internationaler Beamter (Mohamed ElBaradei).

Nur wenige Demonstranten nehmen Bezug auf sie, und die Rettungsfront-Drei haben keinerlei Kontrolle über die Proteste, gerieren sich jedoch quasi als ihr politischer Arm. Aber das ist nur eine – für die drei nicht ungefährliche – Konstruktion für den Augenblick. Neuwahlen sind nötig, aber dafür braucht es Politik, die am Tisch gemacht wird und nicht auf der Straße. (Gudrun Harrer, DER STANDARD, 11.2.2013)