Falluja im Irak gilt als Stadt der Moscheen. Doch seit Wochen beten tausende Muslime nicht mehr in den zahlreichen Gotteshäusern, sondern auf den Straßen und öffentlichen Plätzen und demonstrieren so gegen die Regierung in Bagdad. Die Einwohner von Falluja sind mit ihrem Protest nicht alleine: In den sunnitischen Provinzen des Irak gehen seit Wochen zigtausende Sunniten auf die Straße und stürzen die Regierung von Premierminister Nuri al-Maliki in eine der größten Krisen seit 2007.

Begonnen haben die Kundgebungen im Dezember 2012 in der westirakischen Provinz Al-Anbar, nachdem die Leibwächter des sunnitischen Finanzministers Rafia al-Issawi wegen Terrorismusverdachts festgenommen worden waren. Der Schritt brachte für viele, die den Schiiten Maliki bezichtigen, gezielt Sunniten zu diskriminieren, das Fass zum Überlaufen. Weiter aufgeheizt wurde die Stimmung, als dutzende irakische Frauen in den sunnitischen Stammesgebieten Al-Anbars festgenommen wurden. Die Wut breitete sich wie ein Flächenbrand von den Städten Ramadi und Falluja über Bagdad bis in die nördlicheren sunnitischen Gebiete Iraks aus. Mittlerweile gibt es fast täglich Demonstrationen, Straßenblockaden und auch tödliche Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. (Siehe Landkarte mit dem Verlauf der Demonstrationen seit 23. Dezember am Ende des Artikels.)

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Auch am 8. Februar gingen Tausende Iraker in Falluja auf die Straße, um den Rücktritt von Premier Nuri al-Maliki zu fordern. Foto: Reuters/Mohammed Faisal
Foto: REUTERS/Mohanned Faisal

Die Ursachen für die Frustration in den sunnitisch-dominierten Provinzen Iraks liegen tief. Viele der Demonstranten beklagen, dass die Sicherheitskräfte des Landes - speziell die Eliteeinheiten, die ausschließlich dem Premierminister unterstehen - willkürlich junge Sunniten unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung festnehmen und foltern. Die Verhafteten und Gefolterten behaupten ausschließlich aufgrund ihrer sunnitischen Herkunft ins Visier der Sicherheitskräfte geraten zu sein - im Irak kann das oft am Strang enden. Denn Verdächtige können schon allein aufgrund anonymer Hinweise und Informanten verhaftet und aufgrund von oftmals durch Folter erzwungener Geständnisse zum Tode verurteilt werden. Untermauert werden die Klagen der Demonstranten durch Berichte von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen, die die Praktiken in Iraks Sicherheits- und Justizapparat regelmäßig anprangern.

Weiter Öl ins Feuer gießt der "Islamische Staat im Irak" (ISI) - eine fundamentalistische Dachorganisation, unter der sich die "Al-Kaida im Irak" und ihr nahestehende Gruppen vereinigen. Die militanten Islamisten riefen Anfang Februar die Sunniten des Irak auf, sich zu bewaffnen um gegen die irakische Regierung und ihre Sicherheitskräfte zu kämpfen.

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Premierminister Nuri al-Maliki steht von allen Seiten unter Beschuss. Foto: AP/Hadi Mizban
Foto: AP/HadiMizban

Für Premierminister Maliki stellen die Demonstrationen eine der größten Herausforderungen seiner Amtszeit dar. Zwar habe sich Maliki in der Vergangenheit als sehr widerstandsfähig herausgestellt, sagt der norwegische Irak-Analyst Reidar Visser im Gespräch mit derStandard.at. "Doch die Opposition durch die politische Elite einerseits und die gleichzeitigen Massendemonstrationen auf der Straße andererseits bringen eine völlig neue Dynamik in den politischen Prozess." Visser, der Geschichte in Oxford studierte, gilt mit seinem Blog Iraq and Gulf Analysis als eine der führenden Quellen über irakische Politik.

Auch im irakischen Parlament wächst der Widerstand: Die Abgeordneten verabschiedeten ein Gesetz, dass die Amtszeit des Premierministers beschränkt und Maliki davon abhalten könnte, nächstes Jahr bei den Wahlen anzutreten. Zwar ist es wahrscheinlich, dass die Gerichte das Gesetz aufheben, doch das Votum zeigt, dass der Premier selbst im sonst gelähmten Parlament unter enormem Druck steht. "Im Grunde ist Maliki der Chef einer Minderheitsregierung, er hat nur mehr wenig Unterstützung im Parlament", konstatiert Irak-Experte Visser, "also versucht er das Abgeordnetenhaus zu ignorieren." Malikis einziger Weg aus der Krise wäre Brücken zu anderen politischen Gruppierungen zu bauen, "doch genau das scheint sein Problem zu sein."

Demonstranten wie politische Gegner werfen der Regierung Maliki vor, das Land immer tiefer in den ohnehin stark ausgeprägten konfessionellen Konflikt zu führen. Die Diskriminierung von Sunniten wird dabei vor allem bei der Entbaathifizierung - dem Versuch den Staat von ehemaligen Elementen und Unterstützern des Baath-Regimes von Saddam Hussein zu säubern - offensichtlich. "Schiiten, die unter Saddam dienten, besetzen auch noch heute Posten im irakischen Beamten- und Regierungsapparat. Bei vielen Sunniten hingegen wird der Entbaathifizierungsprozess von Maliki nur dazu genutzt, um sie von der Macht fernzuhalten", sagt Visser am Telefon zu derStandard.at.

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Angst vor militanten Kräften: Am 24. Jänner demonstrierten auch maskierte Männer in Ramadi gegen die Regierung Maliki. Foto: AP/dapd/Khalid Mohammed
Foto:Khalid Mohammed/AP/dapd

Eine Möglichkeit der Entspannung könnten im Irak ausgerechnet die Lokalwahlen im April 2013 darstellen. Der Großteil des Wahlkampfes wird innerhalb der jeweiligen konfessionellen Gruppen abgehalten werden, da Iraks religiöse Landkarte mittlerweile stark ausgeprägt ist - es gibt kaum noch gemischt-konfessionelle Gebiete. Visser: "Die Ironie ist, dass diese geographische Trennung zwischen Sunniten und Schiiten die Spannungen bei den kommenden Wahlen sogar verringern könnte. Es wird lokale Wahlkämpfe Sunnis gegen Sunnis und Schiiten gegen Schiiten geben. Um die Wahlen zu gewinnen, werden sich die Politiker in Al-Anbar etwas mehr einfallen lassen müssen, als: 'Wir hassen Schiiten' ".

Doch es wäre nicht der Irak, gäbe es nicht auch bei den Lokalwahlen Eskalationspotential. Die Aufstellung der Kandidaten könnte noch für Aufregung sorgen. Denn die Kandidaten müssen bevor sie kandidieren dürfen, von einem Entbaathifizierungs-Ausschuss bewilligt werden. Schon bei den letzten Parlamentswahlen gab es einen Konflikt darum. "Im jetzigen aufgeheizten Klima kann so etwas schnell explodieren", sagt Visser.

Angst vor Spaltung

Die wachsenden politischen Unruhen nähren alte Ängste vor einer Spaltung des Irak. "Es ist schwer zu sagen, wie wahrscheinlich eine Spaltung ist, aber die Chancen dafür sind heute größer als noch vor einem Jahr. Doch man muss bedenken, dass es noch keine einheitliche Bewegung für eine solche Spaltung im Irak gibt", sagt Visser. Trotzdem erkennt der Irak-Analyst Signale in diese Richtung. Einerseits vermehrte Aussagen in sunnitischen Provinzen über mehr Eigenständigkeit. Anderseits die immer stärker werdende Selbstverwaltung in den Kurden-Gebieten im Irak. Entscheidend könnte jedoch ein Faktor außerhalb des Landes sein: "Wenn das Regime in Syrien fällt und sich eine sunnitische Regierung in Damaskus etabliert, werden die Karten im Irak völlig neu gemischt werden." (Stefan Binder, derStandard.at, 14.2.2013)

Daten zur Landkarte zusammengestellt aus Informationen von Al-Jazeera, BBC Arabic sowie dem Iraq Weekly des Institute for the Study of War. Kartensymbole von Google Maps und Nicolas Mollet. Kartenanimation von Animaps.